Kapitän Lloyd, ohne jeden Zweifel tief betroffen, daß es durch seinen Mangel an Wachsamkeit zur Katastrophe gekommen war, unternahm einen letzten Versuch, seine Wächter zu überwinden und die zuverlässigen um sich zu scharen. Vergeblich. Am nächsten Tag war keine Spur mehr von Kapitän Lloyd und seinen Offizieren oder auch nur dienstälteren Besatzungsangehörigen zu entdecken. Bolitho schritt rastlos in der Kajüte auf und ab. Er erinnerte sich an Violas Augen, als sie ihm diesen Alptraum geschildert hatte. Jede Stunde brachte Entsetzen und Verzweiflung. Die Piraten kamen und gingen, mißhandelten Männer und Frauen, prügelten sich mitunter sogar untereinander, von Brandy und Rum berauscht. Obwohl Viola Raymond ständig unten im Orlopdeck festgehalten wurde, hatte sie wahrgenommen, daß Geschütze von der Eurotas auf ein anderes, längsseit liegendes Schiff verladen wurden. Sie hatte den Eindruck gehabt, daß dieses Schiff niedriger als die Eurotas und vielleicht ebenso groß wie der Schoner gewesen war. Die kleine Orlopkajüte teilte sie mit einem Mädchen, das wegen Diebstahls zur Deportation verurteilt war. Jeden Tag wurde das Mädchen schreiend aus ihrem Verlies geschleppt; die Piraten ließen Viola über das schlimme Los, das ihm bestimmt war, nicht im Zweifel.
Nur einmal hatte Viola bei ihrer Schilderung die Fassung verloren. Das war, als sie ihre Gefühle beim Erscheinen der Tempest beschrieb.
Die Eurotas war von feindseligen Eingeborenen angegriffen worden, weil der Schoner, wie sie gehört hatte, eine andere Insel überfallen und verwüstet und viele Bewohner getötet hatte.
Schluchzend hatte sie gesagt:»Ich wußte, daß du in diesem Teil der Welt warst, Richard. Ich habe deine Karriere verfolgt, die Gazette auf jede Ernennung und Versetzung studiert. Als ich den jungen Valentin Keen an Bord kommen sah, wußte ich, daß dein Schiff eingetroffen war. «Sie berichtete auch, daß der Anführer der Piraten damit gedroht hatte, daß beim geringsten Versuch, die Besatzung des fremden Bootes zu alarmieren, das Pulvermagazin auf der Stelle in die Luft gesprengt und alle getötet würden.»Ich konnte nicht untätig danebenstehen, Richard. Dieser Schuft ließ einfach eine Handvoll Passagiere an Deck bringen, damit alles normal aussah. Er und einige andere hatten Uniformen der Handelsgesellschaft angezogen. Es war so viel gemordet worden, so viel Schreckliches geschehen. «Sie hatte das Kinn gehoben; das Leuchten in ihren Augen überglänzte ihren spontanen Trotz.»Wenn es ein anderes Schiff als deines gewesen wäre, Richard, hätte ich nichts tun können. Aber die Uhr — ich wußte, daß du dich daran erinnern würdest.«»Es war ein schreckliches Risiko. «Da hatte sie gelächelt.»Aber es hat sich gelohnt. «Bolitho sah sich in der Kajüte um. Hierher war Viola gebracht worden, um dem eigentlichen Anführer der Piraten gegenübergestellt zu werden. Ihre Beschreibung des Mannes war sehr treffend: ein Riese mit brustlangem Bart, der Tuke hieß und Engländer war. Jedenfalls hatte es diesen
Anschein.
Viola hatte gesagt:»Ein Mann ohne Barmherzigkeit und ohne die geringsten Skrupel. Seine Sprache war so ordinär wie er selbst. Er demütigte mich, vergewaltigte mich mit Worten. Er weidete sich an meiner Hilflosigkeit und meiner völligen Abhängigkeit von ihm, ob ich am Leben bleiben oder sterben würde. Aber wegen der Bedeutung meines Mannes als ihre Geisel blieb ich vor dem Los der anderen bewahrt.»
Unwillkürlich beschleunigten sich Bolithos Schritte, und sein Magen zog sich zusammen, als stünde er bereits im Nahkampf mit diesem Piraten.
Der Schoner und sein Begleitschiff, falls er eines hatte, hielten sich wohl irgendwo versteckt. Sicher genossen sie hämisch ihren Erfolg und die Frauen, die sie bei ihrer ersten Fahrt verschleppt hatten. Eine nicht allzuweit entfernte Insel oder Inselgruppe kam dafür in Frage. Die Karte hatte Bolito nichts verraten, und die gefangenen Piraten kaum mehr. Sie waren typisch für ihr Gewerbe, durch Mord und ein hartes Leben brutalisiert. Ihre Anführer mochten Beute machen und reich werden, aber Männer wie sie lebten von der Hand in den Mund und wie die Wilden, die sie waren. Selbst Drohungen ließen sie unberührt. Sie wußten, daß sie auf jeden Fall am Galgen sterben mußten. Gefoltert werden würden sie nicht, und ihre Angst vor Tuke war sogar im Schatten des Henkers größer als vor allem anderen. Einschließlich des unglückseligen Haggard, der dem Hai zum Opfer gefallen war, hatte Bolitho drei Leute verloren. Wenn man die Dunkelheit und die unbekannten Verhältnisse auf dem Schiff in Betracht zog, war dies ein Wunder. Und es sah so aus, als ob die Verletzten sich in wenigen Wochen erholen würden. Das Risiko war gerechtfertigt gewesen. Die Außentür der Kajüte wurde geöffnet, und James Raymond trat ein. Er trug ein frischgewaschenes, sauberes Hemd und einen anständigen grünen Rock und zeigte kaum Spuren des Durchlittenen. Einige Sekunden lang blieb er stehen und blickte Bolitho ausdruckslos an. Er war etwa im gleichen Alter wie der Kommandant, aber sein Gesicht, früher einmal gut geschnitten, wurde durch ein ständiges Stirnrunzeln entstellt. Übellaunigkeit, Mißmut, Anmaßung, alles verriet sich darin.
Raymond trat auf, als ob das Schiff ihm gehörte, seit er aus seinem winzigen Gelaß befreit worden war. Fünf lange Jahre war Bolitho ihm nicht mehr begegnet. Die ganze Zeit über hatte er angenommen, Raymonds Weg nach oben sei durch dessen Tätigkeit in Indien gefördert worden, durch seinen Verrat an dem Gouverneur, den zu beraten sein Auftrag gewesen war.
Jetzt erschien alles in einem anderen Licht. Während Bolitho auf See gewesen war, unzufrieden, weil er den Schauplätzen großer Ereignisse ferngehalten wurde, war Raymond schmählich zur Bedeutungslosigkeit abgeglitten. Die Position, die er jetzt übernehmen sollte, schien sogar noch geringfügiger zu sein als jene, die er vor fünf Jahren innegehabt hatte. Doch eine Reaktion auf diesen Sachverhalt ließ sich nicht erkennen.
Raymond bemerkte kühclass="underline" »Sie schreiben wohl noch an Ihren Berichten, Captain?»
«Ja, Sir. «Bolitho sah ihn fest an und versuchte, den Zorn zu verbergen, den er gegen diesen Mann empfand.»Hinter der Sache steckt mehr, als ich zunächst vermutet habe.«»Tatsächlich?«Raymond ging zum Fenster und blickte zu der Fregatte hinüber.
«Dieser Tuke. «Bolitho hielt inne; schon einmal hatte er Raymond zuviel anvertraut. Er sagte:»Schon allein mit der Beute aus diesem Schiff kann er sich königlich ausstatten.«»Soso. «Raymond drehte sich um, sein Gesicht lag im Schatten.»Ein Jammer, daß Sie ihn und seine verdammte Bande nicht stellen und vernichten konnten.«»Das stimmt.»
Bolitho beobachtete, wie Raymond die Hände an seinen Seiten öffnete und schloß. Er war weniger gelassen, als er scheinen wollte. Was würde geschehen, wenn sie erst den Hafen erreichten, welche Darstellung der Ereignisse würde Raymond geben? Nach allem, was Bolitho bisher erfahren hatte, hatte Raymond kläglich um sein Leben gefleht, als Tukes Leute die Eurotas in Besitz nahmen. Man mußte hoffen, daß Raymond um seiner persönlichen
Sicherheit willen keine Geheimnisse preisgegeben hatte. Die Südsee zog die Flaggen von einem Dutzend Ländern an, die immer auf der Suche nach mehr Handel, mehr Einfluß, mehr Territorien waren.