Vielleicht wußten die Verantwortlichen in Sydney mehr, als sie gesagt hatten. Bolitho hoffte es, denn solange nur die Tempest und die überalterte Hebrus die Autorität des Königs repräsentierten, konnte jede zusätzliche Bedrohung in diesen ausgedehnten Gewässern verhängnisvoll sein. Raymond sagte klagend:»Ich habe sehr viel Geld eingebüßt. Diese verdammten Schurken…«Er brach ab, seine Enthüllungen brachten ihn offenbar selbst aus der Fassung.»Ich werde dafür sorgen, daß sie alle hängen!«Viola Raymond öffnete die Tür und stützte sich mit einer Hand am Rahmen, als das Schiff stark überholte. Bolitho bemerkte die steife Haltung ihrer Schultern und spürte wieder den Zorn in sich aufwallen. Tuke hatte die Spitze eines erhitzten Messers gegen ihre nackte Haut gedrückt: sein Brandmal. Es mußte ein gräßlicher Schmerz gewesen sein.
Viola fragte:»Wen willst du an den Galgen bringen, James?«Und ihre Verachtung offen zeigend:»Als Mann der Tat kann ich mir dich nicht vorstellen. «Raymond entgegnete schroff:»Hör auf. Deine Dummheit hätte uns alle das Leben kosten können. Wenn du… «»Wenn sie nicht so klug reagiert hätte, wären die meisten Gefangenen und alle loyalen Männer bei lebendigem Leib mit diesem Schiff verbrannt. «Bolitho wandte sich Raymond zu.»Vielleicht hätte man Sie ja verschont, das kann ich nicht sagen. Aber den Tod so vieler gegen Geld und privaten Plunder abzuwägen, erscheint mir höchst unangemessen. «Er blickte fort, spürte Raymonds Haß und Violas Mitgefühl.»Auch ich habe ein paar gute Leute verloren. Haben Sie schon an die gedacht? Wissen Sie, ob der junge Haggard, der einem Hai zum Opfer fiel, nicht eine Familie oder eine Witwe in England hinterläßt?«Er hob die Schultern.»Vermutlich sollte ich diese Gleichgültigkeit allmählich gewöhnt sein, aber sie drückt mir immer wieder die Kehle zu.»
Rauh sagte Raymond:»Eines Tages, Bolitho, werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihre Unverschämtheiten bedauern. Ich bin nicht blind und auch kein Narr. «Viola fragte:»Begleiten Sie mich an Deck, Captain?«Und zu ihrem Mann:»Für einen Tag habe ich genug ertragen. «Als sie hinausgingen, schlug Raymond die Tür mit solcher Gewalt zu, als wolle er sie aus den Angeln reißen. Im Dämmerlicht des Ganges blieb Bolitho stehen und faßte nach Violas Handgelenk.
«Schon drei Tage! Ich kann es nicht ertragen, dich mit ihm zusammenzusehen. Vielleicht hätte ich auf mein Schiff zurückkehren und einen Leutnant hier mit dem Kommando betrauen sollen. Es wird noch drei Wochen dauern, ehe wir Land sehen.»
Ihre Haut unter seinem Griff war weich und warm. Sie sah zu ihm auf, ihr Blick war fest.»Und ich habe fünf Jahre lang gewartet und gehofft. Wir haben es falsch gemacht. Wir hätten es wagen, mit den Konventionen brechen sollen. «Sie hob die Hand zu seinem Gesicht.»Ich habe nichts vergessen, nicht einmal den besonderen Geruch, den du an dir hast: nach Schiffen und Salz. Ich hätte mich eher zu den Haifischen, die deinen armen Matrosen umgebracht haben, ins Wasser gestürzt, als mich diesem Ungeheuer Tuke zu unterwerfen.»
Bolitho hörte das Schlagen einer Glocke, anschließend das Klatschen von nackten Füßen, als die Wache wechselte. Ross oder Keen konnten jeden Augenblick kommen. Er sagte:»Sei vorsichtig, Viola. Du hast dir deinen Mann zum erbitterten Feind gemacht.»
Sie hob die Schultern.»Dazu hat er sich selbst gemacht. Er rührte keinen Finger, um mich zu beschützen. «Allday kam laut polternd die Treppe herunter und warf ihnen einen kurzen Blick zu.
Viola fragte ruhig:»Und was sehen Sie voraus, Allday?«Sie lächelte ihm zu.»Auch noch mehr Probleme?«Allday kratzte sich am Kopf. Viola Raymond war Teil einer Welt, der er nie angehört und nur selten getraut hatte.»Sturmböen, Ma'am. Ich sehe sehr viele kommen. Aber ich habe keinen Zweifel, daß wir es schaffen.»
Bolitho blickte ihm prüfend nach.»Jetzt hat es ihm die Sprache verschlagen. Das passiert wirklich selten. «Sie gingen nach vorn, an dem großen Doppelrad des Ruders vorbei, hinaus auf das breite Deck.
Nach der stickigen Kajüte schmeckte die Luft frisch, und am Stand der Marssegel erkannte Bolitho, daß sie gute Fahrt machten. Er überlegte, ob Herrick ihn wohl durch sein Glas beobachtete und sich die gleichen Sorgen wie Allday machte.
Viola schob die Hand unter seinen Arm und sagte zur Begründung:»An Deck geht es sich sehr schwer, nicht?«Dann sah sie zu ihm auf, ihr Blick war herausfordernd, bittend.
Etwas leiser fragte sie:»Drei Wochen, sagst du?»
Er spürte, wie ihre Finger seinen Arm drückten.
«Nach so langem Warten könnte ich es nicht ertragen«, fuhr sie fort.
Keen stand mit Ross auf der Leeseite und beobachtete die beiden verstohlen.
Der Steuermannsmaat fragte:»Was halten Sie davon, Mr. Keen? Der Käpt'n scheint hier ebensoviel zu riskieren wie in der Schlacht. «Er lachte verhalten.»Mann, er ist ihr ganz schön verfallen, daran besteht kein Zweifel. «Keen räusperte sich.»Ja. Gewiß.»
Der große Schotte blickte ihn verwundert an.»Mr. Keen, Sir, Sie werden ja rot!«Er ging davon, amüsiert über seine Entdeckung, und ließ den Leutnant verwirrt zurück. Midshipman Swift, der sich in der Nähe aufhielt, fragte:»Kann ich etwas für Sie tun, Sir?»
Keen funkelte ihn an.»Ja: Kümmern Sie sich um Ihren Dienst, verdammt noch mal.»
Die beiden an der Luvreling hörten davon nichts. Die Wildheit des Nahkampfes und alles, was vorher geschehen war, versank angesichts der dunkler werdenden blauen See. Und die Zukunft lag weiterhin in Ungewisser Ferne. Vielleicht war von Anfang an alles hoffnungslos gewesen; dennoch fühlte Bolitho sich wie erlöst.
Kommodore James Sayer trat erschöpft von den hohen Heckfenstern zurück, um der grellen Sonne zu entgehen, die in die Kajüte strahlte, als sein Flaggschiff vor Anker stark schwojte.
Er war gerade aus der Residenz des Gouverneurs zurückgekehrt und trug noch seine Paradeuniform. Unter dem Hemd war seine Haut kalt und klamm, selbst nach der Fahrt im offenen Boot.
Durch die Heckfenster konnte er gerade die Fregatte Tempest sehen; das dicke Glas verzerrte ihre Umrisse, als läge sie im Dunst. Im ersten Morgenlicht hatte sie Anker geworfen, und auf Sayers Signal war Kapitän Bolitho an Bord des Flaggschiffes gekommen und hatte seinen schriftlichen Bericht vorgelegt, aber auch eine mündliche Darstellung der Plünderung und Morde auf der Eurotas gegeben.
Der wichtigste Passagier, James Raymond, hatte das Flaggschiff nicht besucht, sondern sich direkt zum Sitz des Gouverneurs begeben.
Sayer atmete langsam aus, als er daran dachte, wie er dort empfangen worden war. Im allgemeinen kam er mit dem Gouverneur gut aus, wenn man die übliche Distanz zwischen Regierung und Marine berücksichtigte. Deshalb war er überrascht, als er ihn diesmal siedend vor Zorn antraf.»Als ob nicht alles schon schlimm genug wäre! Jetzt haben wir auch noch diese Bestie Tuke auf dem Hals. Er hat die Eurotas ausgeplündert, und Gott allein weiß, was er mit ihrer Artillerie unternehmen wird. Ich schicke die Brigg Quail mit meinen Depeschen sofort nach England. Wir brauchen hier Verstärkung. Man kann von mir nicht verlangen, daß ich alle diese deportierten Sträflinge aufnehme, für ihre Unterkünfte sorge, ihren Schutz übernehme und außerdem auch noch unsere Handelsrouten überwache.»
Kommodore Sayer war Raymond nie begegnet und wußte nicht, was er zu erwarten hatte. Er hatte gehört, daß Raymond, bisher Regierungsberater bei der East India Company, auf seinen gegenwärtigen Posten hier draußen versetzt worden war. Nach Sayers Meinung konnte eine
Versetzung in die Südsee niemals als Beförderung angesehen werden. Eher als Strafversetzung. Aber Tuke kannte er. Mathias Tuke hatte wie viele seines Gewerbes seine Laufbahn auf See als englischer Kaperkapitän begonnen. Für ihn mußte es nur natürlich gewesen sein, den nächsten Schritt zu tun und auf eigene Rechnung zu handeln — gegen jede Flagge und mit allen Mitteln, über die er verfügte. Dem Galgen war er oft nur um Haaresbreite entgangen, und die Geschichten von seinen gräßlichen Untaten kannte man auf beiden Ozeanen. Er hatte diese Gewässer schon früher heimgesucht und sich dann eine Basis näher bei den ergiebigeren Routen in der Karibik und den spanischen Häfen auf dem amerikanischen Kontinent geschaffen.