Grausam, erbarmungslos, selbst von Seinesgleichen gefürchtet, hatte er schon viele Admirale vor die problematische Frage gestellt, wo er als nächstes zuschlagen würde. Und jetzt war er hier.
Sayer hatte gesagt:»Ich habe einen umfassenden Bericht über die Ereignisse auf der Eurotas, Sir. Ohne Kapitän Bolithos sofortiges Eingreifen, mit keinem geringen Risiko für seine eigene Person und seine Gruppe, fürchte ich, wäre alles verlorengegangen und alle Menschen an Bord wären kaltblütig hingemetzelt worden.»
«Gewiß. «Der Gouverneur hatte in den Papieren auf seinem großen Schreibtisch gekramt.»Ich bin außer mir über die Dummheit des Kapitäns der Eurotas. Bei so vielen Sträflingen und zu wenigen Wachen an Bord in Santa Cruz noch zusätzliche Passagiere aufzunehmen!«Verzweifelt hob er die Hände über den Kopf.»Nun, er hat dafür büßen müssen, der arme Teufel.»
Sayer hatte nichts dazu gesagt. Schon seit einiger Zeit wußte er, daß die Kapitäne von Handelsschiffen im Dienst der Regierung zusätzlich Passagiere aufnahmen, um ihre Einkünfte zu verbessern. Sie brachten gutes Geld, und mancher Handelskapitän konnte sich reich zur Ruhe setzen. Diese Aussicht hatte Kapitän Lloyd nun nicht mehr.»Es versetzt mich in eine teuflische Situation. «Der Gouverneur ging trotz der drückenden Hitze heftig auf und ab.»Mr. Raymond hat eine wichtige Aufgabe auf den Levu-Inseln zu erfüllen. Es ist alles arrangiert. Jetzt, da die Eurotas praktisch völlig waffenlos ist und fähige Offiziere und eine neue Besatzung braucht, kann ich ihn nicht ohne eine Eskorte dorthin reisen lassen. «Sayer hatte weiter geschwiegen. Die Levu-Inseln, nahe bei den Freundschaftsinseln gelegen, wo Tuke die Eurotas versteckt hatte, standen schon seit vielen Monaten zur Diskussion, fast schon seit der Zeit, als die Kolonie in Neusüdwales gegründet worden war. Die meisten Häuptlinge der Inselgruppe waren freundlich gesonnen und zum Handel bereit.
Die Eingeborenenstämme haßten sich gegenseitig, das trug zur Sicherheit der Briten bei. Die Hauptinsel bot einen guten Ankerplatz, frisches Wasser und reichlich Holz. Immer wieder war die Inselgruppe von Kapitänen auf der Suche nach Wasser und frischen Lebensmitteln beansprucht worden, indem sie dort die Flagge mit ihren Landesfarben hißten.
Jetzt aber, da sich die Spannungen zwischen Großbritannien und Spanien verschärften, bedeutete die Insel mehr als nur eine Erweiterung des britischen Einflußgebietes. Sydney und der Rest der großen Kolonie wuchsen und breiteten sich jeden Monat weiter aus. Die neueröffneten Handels- und Versorgungsrouten und die Flanken der Kolonie mußten geschützt werden. Die Levu-Inseln konnten leicht Kriegsschiffen als Stützpunkt dienen, die von Südamerika her und um Kap Horn patrouillierten. Sayer konnte sich nicht vorstellen, wie ausgerechnet Raymond dort eine wichtige Position ausfüllen sollte. Dazu wirkte er durch ein angenehmes Leben zu verweichlicht. Gewiß verfügte er über eine gewisse Härte, aber das war eher Hartherzigkeit als Charakterstärke. Raymond hatte bestätigt:»Ja, ich muß eine Eskorte haben. «Er hatte Sayer angesehen.»Sie befehligen doch das Geschwader hier. «Es klang wie eine Beschuldigung. Daran war Sayer gewöhnt, aber es ärgerte ihn trotzdem.»Das werden Sie wohl arrangieren können, oder?«»Ich verfüge über ein paar Schoner, einige bewaffnete
Kutter und die Brigg Quail.«Er hatte aus dem Fenster gedeutet.»Jetzt habe ich auch die Tempest, Gott sei Dank, unter einem Kommandanten, der die Erfahrung und die Energie besitzt, sie gut und wirkungsvoll einzusetzen. «Der schnelle Blickwechsel zwischen den beiden war Sayer nicht entgangen. Sie hatten also über Bolitho gesprochen. Merkwürdig war nur die gespannte Stimmung. Vielleicht beruhte sie auf der Befürchtung, daß der Kommodore ihm etwas weitersagen würde, was nicht für Bolithos Ohren bestimmt war.
Dann fuhr der Gouverneur fort:»Sie werden eben die Tempest abstellen. Ich bin schon dabei, die entsprechenden Befehle aufzusetzen. Ich habe auch Anweisung gegeben, die Eurotas wieder mit allem auszurüsten, über das wir verfügen. Mit Geld und Kanonen sieht es allerdings schlecht aus«, hatte er erbittert hinzugefügt.
Raymond hatte sich entschuldigt und war in einen anderen Teil der Residenz gegangen, wo er und seine Frau wohnten. Sayer hatte erwartet, daß Raymond Zeichen der Dankbarkeit zeigen würde, daß er überlebt hatte, und Mitgefühl für die weniger Glücklichen. Aber es war, als ob er die Erinnerung an die Ereignisse aus seinem Gedächtnis getilgt hätte. Sobald Sayer mit dem Gouverneur allein war, erlebte er seine zweite Überraschung.
«Ich kann Ihnen versichern, Sayer, wenn Bolitho das Schiff nicht wiedererobert hätte, wenn seine Tapferkeit nicht so offenkundig wäre und er nicht so viele Menschen gerettet hätte, würde ich Ihnen befehlen, ihn vor ein Kriegsgericht zu stellen.»
Sayer war völlig verblüfft.»Dagegen muß ich protestieren, Sir! Ich kenne Bolithos Laufbahn. Er ist in jeder Hinsicht ein hervorragender Offizier, wie es sein Vater schon war.«»Und sein Bruder?«Der Gouverneur hatte den Kommodore eisig angesehen.»Mr. Raymond sagte mir, daß Bolithos Bruder ein Verräter war, ein verdammter Überläufer im Krieg!«Darauf hatte er eine Hand erhoben.»Das war unfair von mir, Sayer, aber es entspricht meinen Empfindungen. Ich bin überarbeitet, überfordert durch die Zwiste in der Kolonie und die Unfähigkeit meines Verwaltungspersonals.
Und nun noch dieses. James Raymond, ein wichtiger Mann aus London, der das Ohr des Premierministers und wahrscheinlich auch das des Königs hat, beschuldigt Bolitho einer Liaison mit seiner Frau.»
Das war es also. Irgendwo in Sayers Gedächtnis lebte etwas wieder auf: Vor vier oder fünf Jahren hatte Bolitho die Fregatte Undine kommandiert und mit ihr eine andere neue Handelsmission unterstützt. In Borneo, das war es. Der Gouverneur dieses gottverlassenen Orts war ein Admiral im Ruhestand gewesen. Es hatte Gerede über ein Verhältnis zwischen der Frau eines Regierungsbeamten und einem jungen Fregattenkapitän gegeben.
Der Gouverneur sagte knapp:»Ich sehe Ihrem Gesicht an, Sayer, daß Sie schon davon gehört haben.«»Nein, Sir. Das war vor langer Zeit. Und nur Gerüchte.«»Mag sein. Aber durch eine unerfreuliche Fügung des Schicksals wurden sie hier wieder zusammengeführt. Und es ist nicht dasselbe wie früher. Bolitho ist nach wie vor Fregattenkapitän, während Raymond an Einfluß gewonnen hat, kaum aber an Nachsicht. Versuchen Sie, es von meinem Standpunkt aus zu sehen. Ich kann mir keine zusätzlichen Probleme leisten. Mit meinen Depeschen werde ich einen Antrag nach London schicken, daß die Tempest hier abgelöst wird. Ich bin kein solcher Tyrann, daß ich gleich die Absetzung ihres Kommandanten verlange. «Der Gouverneur hatte mehr oder minder deutlich eingeräumt, daß er von Raymond keinen guten Eindruck gewonnen hatte. Doch was änderte das schon, überlegte Sayer.
Als er jetzt wieder in seiner Kajüte stand, war er unsicher, wie er Bolitho gegenübertreten sollte. Der war ein ausgezeichneter Offizier, wichtiger noch, ein guter Mann. Doch Sayer hatte seine Verantwortung. Es ging wieder einmal um die Hierarchie.
Sein Kapitän blickte in die Kajüte.»Die Gig der Tempest legt an, Sir.»
«Gut. Empfangen Sie Kapitän Bolitho und bringen Sie ihn nach achtern.»