Vielleicht drückte Borlase die Verantwortung für die Sicherheit. Oder vielleicht meinte er, die Sträflinge sollten eingepfercht werden wie bisher. Doch sobald sie an Land kamen, benötigten sie ihre volle Gesundheit und Beweglichkeit, um am Leben zu bleiben. Sie traten in den Schatten des Hüttendecks und gingen nach achtern zur Kapitänskajüte.
Raymond wartete am Schreibtisch, seine Gestalt hob sich nur als Silhouette vor dem Sonnenglast ab, der durch die hohen Fenster hereinströmte.
Er sagte schroff:»Sie bleiben anwesend, Mr. Borlase. «Bolitho wartete unbewegt. Raymond hielt den Leutnant als Schutz oder als Zeugen zurück — oder als beides.»Nun, Captain?«Raymond lehnte sich zurück, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt.»Vielleicht sind Sie jetzt so freundlich, mich über Ihre Zusammenkunft mit dem Kapitän der Narval zu unterrichten.«»Ich hätte Ihnen einen schriftlichen Bericht vorgelegt.«»Davon bin ich überzeugt. «Es klang sarkastisch.»Aber schildern Sie mir jetzt schon das Wichtigste. «Borlase schien seinem Kommandanten einen Sessel bereitstellen zu wollen, aber nach einem Blick auf Raymond gab er diese Absicht auf.
Merkwürdigerweise fühlte Bolitho sich durch Raymonds Verhalten erleichtert. Da blieb kein Raum für Vorspiegelungen, für eine Änderung ihrer Beziehungen. Er lauschte seiner eigenen Stimme, als er kurz darlegte, was zwischen ihm und dem Franzosen vorgegangen war: nüchtern, ohne Emotion, wie eine Aussage vor dem Kriegsgericht.
Raymond schob das Kielholen beiseite als» eine Angelegenheit, über die jedes Land selbst entscheiden muß».
Bolitho sagte ruhig:»Frankreich hat darüber schon lange entschieden. Aber hier draußen verkörpert de Barras sein Land.»
«Das betrifft mich nicht. «Raymonds Fingerspitzen trommelten in einem lautlosen Wirbel gegeneinander.»Aber die Narval geht mich ganz gewiß etwas an.»
«Er wird es nicht wagen…«Bolitho kam nicht weiter, denn Raymond fuhr dazwischen.
«Also wirklich, ihr Seeoffiziere seid einer wie der andere. Wir befinden uns nicht mehr im Krieg mit Frankreich. Sie müssen sich an Ihre neue Rolle gewöhnen — oder sie gegen eine andere tauschen. «Seine Stimme wurde lauter und schärfer. Es war, als hätte er für einen solchen Augenblick geprobt.»Mit französischer Hilfe können wir alle Möglichkeiten für den Ostindienhandel und dessen gemeinsame Verteidigung sondieren. Die Beseitigung der Piraterie, zum Beispiel. Die Überwachung größerer Seegebiete im gemeinsamen Interesse. Wenn wir eines Tages gezwungen sein sollten, wieder gegen Frankreich zu kämpfen, dann sind wir aufgrund dieser Kooperation in einer besseren Situation. Man muß die Konkurrenz kennen, jeder Kaufmann weiß das. Ein Jammer, daß die Leute, die mit unserem Schutz betraut sind, sich nicht auch dazu verstehen können.»
In der plötzlich eintretenden Stille konnte Bolitho seinen Herzschlag spüren, aber er hielt sich zurück. An der Art, wie Borlase zwischen ihm und Raymond hin und her blickte, erkannte er, daß der Leutnant seinen Konterschlag erwartete. Das war eine bewußte Beleidigung gewesen, doppelt schwerwiegend, da Bolithos Leute mit nicht geringem Risiko Raymond das Leben gerettet und ihm seine Freiheit zurückgewonnen hatten.
Raymond runzelte die Stirn.»Haben Sie nichts zu erwidern?»
«Von Kaufleuten verstehe ich nur wenig, Sir. Aber ich kann einen Freund von einem Feind unterscheiden.»
Borlase wechselte hörbar seinen Stand.
Raymond sagte:»Jedenfalls haben Sie die Narval mit frischen Aversionen gegen uns weiterfahren lassen.»
«Ich erwarte, daß de Barras sich in unserer Nähe halten wird, Sir. Er ist entschlossen, seinen Gefangenen zurückzuholen, und falls wir auf den Piraten Tuke stoßen,
bekommt er eine gute Chance dafür.»
«Richtig. Wenn Tuke gehenkt und dieser Renegat wieder in
Ketten ist, mag dadurch einiges wieder gutgemacht werden. «Er legte eine Pause ein, um abzuwarten, ob Bolitho den Köder aufnehmen würde. Doch als Bolitho ungerührt schwieg, fragte Raymond schroff:»Wann erwarten Sie, Land zu sichten?»
«Wenn der Wind so bleibt, dauert es keine drei Wochen. Andernfalls kann es zwei Monate dauern. «Es war sinnlos, die unterschiedliche Geschwindigkeit der beiden Schiffe hervorzuheben. Aber er durfte auch nicht zu optimistisch sein. Raymond wartete nur auf eine schwache Stelle, einen Fehler.
Raymond zog seine Uhr und sagte zu Borlase:»Sagen Sie meinem Diener, er soll Wein bringen. «Und kühl zu Bolitho:»Ich bin sicher, daß meine Frau uns gern Gesellschaft leisten will. «Er sah sich in der Kajüte um.»Hier ganz bestimmt. «Bolitho wandte sich ab. Er hätte damit rechnen müssen: Raymonds Trumpfkarte war ausgespielt. Für Borlase mochte es wie eine selbstverständliche, formale Einladung geklungen haben, auf gutem Brauch oder Höflichkeit beruhend: der hohe Beamte, der den Kommandanten seiner Eskorte mit Wein bewirtete. Aber die Art, wie Raymond das Wort >hier< hervorgehoben hatte… Bolitho brauchte keinen weiteren Hinweis. Denn hier in der Kajüte war Bolitho mit Raymonds Frau zusammengekommen, hatte sie umarmt, um das Entsetzen und die Verzweiflung ihrer Gefangenschaft auf der Eurotas zu lindern; hatte die Brandnarbe auf ihrer Schulter geküßt. Es war der Ort, wo sie sich mit aller Leidenschaft und Einfalt geliebt hatten.
Die Tür ging auf, und Viola trat in die Kajüte. Trotz ihrer täglichen Spaziergänge an Deck war sie blaß und hatte Ringe unter den Augen, was Bolitho schmerzlich berührte.»Ein Gast, meine Liebe. «Raymond erhob sich halb, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken. Auch ein rotröckiger Hauptmann der Miliz, der mit seinem Kommando die Sträflinge an Bord bewachte, folgte Borlase in die Kajüte. Ohne die geringste Ahnung von der dramatischen Situation strahlte er Bolitho und den Wein an: noch ein Zeuge.
Bolitho ging durch die Kajüte und ergriff Violas Hand. Als er sie an die Lippen hob, blickte er ihr ins Gesicht. Leise sagte sie:»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Captain. «Sie warf den Kopf zurück.»Es ist lange her.«»Auf das Wohl des Königs!«Borlases Stimme klang, als würge seine Halsbinde ihn. Er wenigstens erriet, was hier vorging.
«Auf den König!«Raymond nippte an seinem Glas.»Wenn ich meinen Auftrag hier erfüllt habe, wird man im Palast von St. James vielleicht bereit sein, mir eine angemessene Position in London anzubieten.»
Bolitho beobachtete ihn. Wieder ein Hinweis für Borlase und den Hauptmann, daß Raymond ein einflußreicher Mann war und keiner, den man gegen sich aufbringen sollte. Überraschenderweise dachte Bolitho plötzlich an seinen toten Bruder Hugh, der immer hastig in seinen Reaktionen gewesen war, immer vorprellte. In dieser Situation hätte er höchstwahrscheinlich nach einem» Ehrengrund «gesucht, der es ihm ermöglichte, Raymond zum Duell zu fordern. Er hätte sich nicht damit aufgehalten, die Konsequenzen zu bedenken.
Bolitho bemerkte, daß Viola quer durch den Raum gegangen war und Raymond absichtlich den Rücken kehrte. Sie fragte:»Kennen Sie diese Inseln, Captain?«Aber ihre Blicke erforschten sein Gesicht, seinen Ausdruck; verzehrten ihn.»Ein wenig. Mein Steuermann ist besser informiert. «Er senkte die Stimme.»Bitte schonen Sie sich, wenn Sie an Land sind. Das Klima ist grausam, selbst für jemanden wie Sie, der weite Reisen gewöhnt ist.»
«Pardon, das habe ich nicht verstanden. «Raymond stand auf und stieß gegen den Schreibtisch, als das Schiff krängte. Dann fügte er hinzu:»Ich glaube, der Wind frischt auf, Captain.»
Bolitho sah ihn kalt an.»Ja. Mr. Borlase, würden Sie bitte nach meiner Gig signalisieren?»
Unter der Tür zögerte er. Er wußte, daß er geschlagen war, noch ehe der Kampf richtig begonnen hatte. Raymond nickte kurz.»Ich hoffe, daß der Wind günstig bleibt. «Und dann lächelnd:»Warum begleitest du den tapferen Kapitän nicht zu seinem Boot, meine Liebe?»