«Nenne sie doch Evans-Insel, Richard.»
Er lächelte.»Ja. Schließlich ist er der einzige, der hierbleibt.»
Keens Stimme kam von den Felsen herüber, wo das Boot bewacht wurde.»Wir haben wieder Kanus gesichtet, Sir. «Bolitho schob das kleine Notizbuch unter sein Hemd.»Gut. Löscht das Feuer und ruft die Leute zusammen. Im Boot sind wir sicherer als hier.»
In grimmigem Schweigen ruderten sie von dem einzigen Ort fort, der sie freundlich empfangen hatte. Durch die warme Mahlzeit und die Ruhepause gestärkt, lenkten sie das Boot wieder nach Norden und überließen Evans seiner letzten
Ruhe.
Wie ein sterbender Wasserkäfer schwankte der Kutter mit teilweise eingezogenen, bewegungslosen Riemen auf der ungebrochenen Fläche der Wogen, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte.
Bolitho dachte daran, etwas in sein kleines Buch einzutragen, aber er wußte, daß es ihm jedesmal schwerer fiel, sich auf die unnützen, leeren Worte zu konzentrieren.
Die Ruderer hingen über ihren Riemen, die Gesichter auf die Arme gepreßt, die anderen kauerten entweder an den Bordwänden und versuchten dort, Schatten oder Schlaf zu finden, oder schliefen wie Tote, wo sie saßen. Viola Raymond saß an seiner Seite etwas unterhalb von ihm. Sie trug seinen Uniformrock. Ihr zerrissenes, fleckiges Kleid hatte sie ausgezogen, um es im Meerwasser zu waschen. Als er auf sie hinunterblickte und ihr rotgoldenes Haar sah, das sie im Nacken zusammengebunden hatte, dachte er, daß sie ein Kapitän sein könnte.
Sie schien seinen Blick zu fühlen, denn sie streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Aber sie blickte nicht auf. Wie ihre Gefährten fand sie das blendende Licht zu unerträglich, zu kräfteverzehrend für den bescheidenen Rest Energie, den sie noch besaß.
«Wie lange willst du sie noch ausruhen lassen?«Ihre Stimme war gedämpft, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr. Keine Augen belauerten sie, wenn sie zusammen waren, und wenn sie sich berührten oder an den Händen hielten, wurde das hingenommen. Sie war ein Teil der Stärke aller, wie sie ein Teil seiner Stärke war. Er kniff die Augen zusammen und schätzte den Sonnenstand.»Nicht mehr lange. Wir kommen jeden Tag weniger schnell vorwärts.»
Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Bei der Bewegung lief ihm der Schweiß über Brust und Oberschenkel. Es war vier qualvolle Tage her, seit sie die kleine Insel verlassen hatten, auf der Evans begraben lag: Tage und Nächte unerbittlicher, kräfteverzehrender Arbeit. Rudern und Wasserschöpfen. Versuchen, für ein paar Minuten Schlaf zu finden, und dann von neuem anfangen. Er dachte über ihre gegenwärtige Situation nach. Vor acht Tagen hatten sie die Pier verlassen. Es war nahezu unmöglich, an die quälenden Meilen, die sie langsam hinter sich gebracht hatten, auch nur zu denken. Ihr Wasservorrat war auf eine Gallone geschrumpft, falls es noch so viel war. Von dem Salzfleisch war noch knapp eine Handvoll steinharter Brocken vorhanden. Den größten Teil des Weins hatte er in kleinen Schlucken ausgegeben, und vor zwei
Tagen hatten sie das Glück gehabt, einen Tölpel zu erlegen. Wie schon vorher war der Vogel geteilt worden, und das Blut bekamen die, die am schlechtesten dran waren. Zu ihnen gehörte jetzt auch ein Matrose namens Robinson, der sowohl unter der Sonne als auch unter Durst sehr litt, und Penneck, dessen Speerwunde bedrohlich entzündet war. Der Kalfaterer des Schiffs war der einzige, der nur selten schwieg. Tag und Nacht stöhnte und schluchzte er, betastete den Verband um seinen Hals und verfiel gelegentlich in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem er aber weiter stöhnte.
Bolitho verstärkte seinen Druck auf ihre Finger. Seine Augen schmerzten, und er dachte an ihren Mann und seine gefühllose Gleichgültigkeit, seine Weigerung, an irgend etwas anderes als sich selbst zu denken.»Wie fühlst du dich?«Er wartete, weil er wußte, daß sie sich ihre Antwort überlegte, und fügte hinzu:»Sei aber ehrlich. «Sie erwiderte den Druck seiner Hand.»Ganz erträglich, Cap-tain. «Sie beschattete ihre Augen und sah zu ihm auf.»Quäle dich nicht so. Wir werden ankommen. Du wirst es sehen.»
Allday richtete sich auf und schüttelte sich wie ein Hund.»Fertig, Jungs?»
Penneck begann wieder zu stöhnen, und Blissett fuhr ihn wütend an:»Beherrsch' dich endlich, Mann. Das ist ja nicht auszuhalten.»
Quare zog seinen roten Uniformrock aus und legte ihn sorgfältig zusammen, ehe er einen Riemen übernahm.»Langsam, Blissett. Der arme Kerl kann nichts dafür.«»Riemen bei!»
Bolitho beobachtete sie, erkannte die Hoffnungslosigkeit, mit der sie mit den langen Riemen kämpften. Schon das Ausbringen der Riemen schien ihre Kräfte zu erschöpfen.»Rudert an!»
Bolitho kontrollierte den Kompaß. Kurs Nord. Vielleicht würden sie alle sterben und Tuke über die Siedlung herfallen, wie er es immer geplant hatte. Bolitho hatte einmal ein Boot voll toter Seeleute gefunden. Er fragte sich oft, wer wohl als letzter starb, wie es gewesen sein mußte, hilflos mit Männern zu treiben, die man kannte und die man einen nach dem anderen dahingehen sah, während man darauf wartete, daß man selbst an die Reihe kam. Er versuchte, seine Depression abzuschütteln, und konzentrierte sich auf Millers Behelfssegel. Es trug nur wenig zu ihrem Tempo bei, half aber, das Boot ruhiger zu halten und den Ruderern die Arbeit etwas zu erleichtern. Bolitho griff nach seinem Glas und richtete es nach Steuerbord. Unmittelbar am Horizont entdeckte er einen violetten Schimmer: eine lange, flache Insel. Er spürte, daß sein Herz schneller schlug. Sie waren nicht von ihrem Kurs abgekommen. Er erinnerte sich, daß er sie auf der Karte gesehen hatte.
Sie regte sich neben ihm.»Was gibt es?«Seine Stimme klang gelassen.»Eine Insel, viele Meilen entfernt, für uns zu weit. Aber sie zeigt, daß wir vorwärtskommen. Ein- oder zweimal habe ich schon gedacht…«Er lächelte zu ihr hinab.»Ich hätte mich auf dein Urteil verlassen sollen.»
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Leute. Pyper war in schlechter Verfassung, gab sich aber große Mühe, es nicht zu zeigen. Durch einen Riß in seinem Hemd war seine Schulter von der Sonne verbrannt und sah aus wie rohes Fleisch. Er schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Keiner hatte noch viel Feuchtigkeit in seinem Körper. Vielleicht war Evans doch der Glücklichste von allen.
Leise sagte er:»Wir müssen Wasser haben. Ich kann von den Leuten nicht verlangen, weiterzumachen, bis sie umfallen.»
Sie nickte langsam.»Ich werde beten.»
Sie senkte den Kopf. Der heiße Wind wehte ihr Haar über seinen blauen Uniformrock, und er war selbst einem
Zusammenbruch nahe. Er allein hatte sie alle in diese Lage gebracht. Viola insbesondere mußte für ihre Liebe zu ihm leiden. Die anderen würden sterben, weil er es befohlen hatte.
«So. «Sie sah zu ihm auf.»Vielleicht hilft's. Jetzt werde ich mich um die Verbände kümmern. «Sie griff nach ihrem
Kleid, das zum Trocknen über der Ruderbank lag.»Von morgen an werde ich einen Teil davon dazu verwenden. Der arme Penneck hat fast die letzten Binden verbraucht. «Sie stand auf und schwankte im Boot, bis Keen ihr die Hand entgegenstreckte, um sie zu stützen. Sie lächelte ihn an.»Danke, Val.»
Das war ihr besonderer Name für ihn, und Bolitho sah den dankbaren Blick, den sie dafür empfing. Nach ihm hatte Keen mehr Grund als jeder andere, ihre Freundlichkeit nicht zu vergessen.
Sergeant Quare mußte sich zweimal räuspern, ehe er sprechen konnte.»Soll ich anfangen, die Rationen einzuteilen, Sir?«Sogar er wirkte deprimiert, beinahe geschlagen.
Bolitho überkam plötzlich Verzweiflung.»Ja. Für jeden einen Becher, halb Wasser, halb Wein. «Er nickte bedrückt.»Ich weiß, Sergeant, es ist der letzte Rest. «Als Viola zu den Kranken und Verwundeten kam, packte Penneck den geliehenen Uniformrock und stammelte wild:»Lassen Sie mich nicht sterben, bitte, lassen Sie mich nicht sterben!«Er flehte sie an, seine Stimme steigerte sich zu einem dünnen Schrei.