Bolitho dachte an die dringlichen Anweisungen des Gouverneurs, an seinen Zorn. Am stärksten hatte ihn der letzte Absatz betroffen: neben ihrer wertvollen Ladung brachte die Eurotas weitere Deportierte, und vor allem — er konnte es fast vor Augen sehen — den neuernannten Berater und amtierenden Gouverneur für eine weitere Kolonie, James Raymond, mit seiner Frau.
Bolitho wandte sich von den schimmernden Lichtern ab; ihr Glanz war trübe geworden.
«Wecken Sie den Steuermann, Thomas, und stellen Sie den frühest möglichen Augenblick zum Auslaufen fest; notfalls lasse ich das Schiff mit Booten freiwarpen. Andererseits — vielleicht ist es ein blinder Alarm. Die Eurotas kann eine Insel angelaufen haben, um Wasser oder Holz zu übernehmen. Oder sie kann in eine Flaute geraten sein, wie es uns oft genug passiert ist.»
Herrick studierte ihn mit sehr stillen Augen.»Unwahrscheinlich«, sagte er.
Bolitho ging an ihm vorbei, berührte die Stühle, ohne sie zu spüren, und den alten Degen an der Schottwand, den Allday wie ein Gralshüter bewachte.
Er fuhr fort:»Sayer wird die Kurierbrigg ausschicken, wenn sie erst wieder da ist, und der Gouverneur will zwei kleine Schoner nach Norden und Osten abkommandieren.«»Wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, Sir. «Bolitho drehte sich auf dem Absatz um.»Das weiß ich, verdammt noch mal! Aber wir müssen etwas tun. «Er bemerkte Herricks überraschten und gekränkten Ausdruck und fügte hinzu:»Tut mir leid. Der Wein ist schuld. «Bolitho schob die Papiere über den Tisch, denn Herrick mußte es früher oder später erfahren.»Lesen Sie selbst. «Damit ging er zur Tür und sagte zu dem Wachtposten:»Benachrichtigen Sie den Midshipman der Wache, ich wünsche alle Offiziere unverzüglich zu sprechen. «Er merkte, daß Herrick ihn beobachtete, und sagte nüchtern:»Ich weiß, Thomas, ich weiß, was Sie denken. Aber das liegt fünf Jahre zurück. Eine lange Zeit für Erinnerungen.»
Herrick sah ihn grimmig an.»Jawohl, Sir — wenn Sie meinen? Ich sammle die Offiziere draußen und bringe sie zusammen herein. «Damit verließ er die Kabine. Bolitho setzte sich und zog nach kurzem Zögern seine Uhr aus der Tasche. Sie hatte ein sehr gutes Werk von Mudge and Dutton und ein festes, luftdichtes Gehäuse. Geistesabwesend klappte er den Deckel auf, um die Widmung auf der Innenseite zu lesen:
Er schloß den Deckel und steckte die Uhr wieder in die Tasche. Sein Kopf war jetzt ganz klar, und als seine Offiziere eintraten, fiel ihnen keine Veränderung an ihm auf. Außer Herrick, und der konnte nichts dagegen unternehmen.
II Isolation
Bolitho hielt im Niedergang inne und ließ seinen Augen
Zeit, sich an den grellen Glanz zu gewöhnen.
Es war beinahe acht Glasen,[9] und die Männer der
Vormittagswache hatten sich zur Ablösung bereits lustlos unter der Achterdecksreling versammelt.
Bolitho war schon vor zwei Stunden an Deck gewesen, wie es seine Gewohnheit war. Trotz der Gewißheit, daß ein weiterer sengend heißer Tag bevorstand, war ihm zu dieser
Stunde alles frisch und lebendig erschienen. Der Tau auf
Segeln und Leinen hatte diese Illusion noch verstärkt. Doch jetzt stand die Sonne bereits hoch, und als Bolitho zum
Achterdeck hinaufstieg, fragte er sich unwillkürlich, wie lange sie noch nach der Eurotas suchen mußten.
Seit Sydney hatten sie gut zweitausendfünfhundert Meilen gesegelt — oder eher dreitausend, alle Kreuzschläge[10] und
Launen des Windes mitgerechnet. Herrick hatte bemerkt,
ihm käme es zwanzigmal länger vor.
Drei Wochen sengender Hitze und grenzenloser, leerer See.
Bolitho kniff die Augen zusammen und versuchte, über den leicht dippenden Bugsprit hinauszuspähen, aber das Licht war schon so grell, daß die See wie poliertes Silber blendete;
übergangslos verschmolz sie mit dem Himmel.
Nach und nach prüfte er die Stellung der Segel. Sie zogen noch, aber nur schwach; die leicht angebraßten Rahen hielten das Schiff auf Steuerbordbug.
Er hörte den Steuermannsmaat Leutnant Borlase melden:
«Die Wache ist angetreten, Sir.»
Dann quietschten Borlases Schritte auf Deck, seine Sohlen klebten wohl an dem heißen Pech fest.
Er, wie auch Keen, der ihn ablöste, waren sich der
Anwesenheit ihres Kommandanten bewußt, kannten ihn aber auch gut genug, um zu wissen, daß er in die Routine eines Wachwechsels nicht eingreifen würde.
Bolitho hörte Keen sagen:»Aye, Sir. Kurs Ostnordost…
Liegt an.»
Darauf Borlase, kurz und ungeduldig:»Wie üblich keine besonderen Vorkommnisse. Nur Peterson wurde wegen Unbotmäßigkeit ins Logbuch eingetragen. Der Erste Offizier kann sich später mit ihm befassen. «Er wischte sich das schweißnasse Gesicht und den Nacken.»Lösen Sie die Rudergänger ab, bitte. «Dann verschwand er mit einem Nicken im Niedergang.
Die Leute nahmen den Dienst auf, vier lange Stunden einer weiteren Wache.
Bolitho hatte Herrick mit dem Bootsmann und einigen Helfern auf dem Vorschiff gesehen. Die Arbeit nahm kein Ende. Wie jedes Schiff glich auch die Tempest einem feingestimmten Instrument, bei dem jeder Zoll der Takelage so entworfen und angeordnet war, daß er eine bestimmte Aufgabe erfüllte. Spleißen und Nähen, Malen und Kalfatern verlangten auf der Tempest viel Schweiß und knochenbrechende Mühe.
Herrick sah ihn und kam über die Gangway nach achtern. Seine untersetzte Gestalt bewegte sich fast senkrecht auf den ausgedörrten Planken. Das war kaum überraschend, denn obgleich alle Segel gesetzt waren, wies das Deck kaum Krängung auf.
Herrick bemerkte:»Das wird wieder ein harter Tag, Sir. «Er sah prüfend zu den Masten auf.»Ich habe die Leute frühzeitig rangenommen, das erspart ihnen das Schlimmste, Mr. Jury plant für heute nachmittag ein paar schwerere Arbeiten im Orlopdeck.»
Bolitho nickte. Er beobachtete Keen, der rastlos um Ruder und Kompaß wanderte. Wie die anderen Offiziere war er nur mit Hemd und Breecheshose bekleidet, und sein blondes
Haar klebte ihm schweißnaß an der Stirn.»Gut, Thomas«, sagte Bolitho.»Die Leute werden uns zwar wegen der schweren Arbeit verfluchen, aber das erspart ihnen anderen Ärger.»
Wie jeder andere Offizier wußte Herrick, daß zuviel Freizeit bei den herrschenden Verhältnissen zu Streitigkeiten und Schlimmerem führen konnte. In der Messe und den Offizierskammern war es schon schlimm genug. Aber im überfüllten Mannschaftslogis des Unterdecks mußte es die Hölle sein.
Herrick beobachtete ihn und wartete auf den richtigen Augenblick.
«Wie lange noch, Sir?«Bolitho drehte sich zu ihm um, aber Herrick hielt seinem scharfen Blick stand.»Ich meine, wir haben doch die volle Distanz zurückgelegt. Das Postschiff hat die Eurotas wohlbehalten und auf Kurs in diesen Gewässern gesichtet. Sie muß danach in Schwierigkeiten geraten sein. Und bei diesem Schneckentempo können wir sie kaum verpaßt haben.»
Bolitho packte die Reling mit beiden Händen. Das heiße Holz half ihm, seine Gedanken zu sammeln, seine Nervosität zu verbergen.
Unter sich sah er Jacob Twig, den Koch, im Schatten eines Laufgangs zielbewußt davoneilen, zweifellos zum Zahlmeister. Die frischen Lebensmittel und Sondervorräte, die sie in Sydney übernommen hatten, mußten mit dem üblichen Pökelfleisch gestreckt werden: mit gesalzenem Rind- oder Schweinefleisch, das manchmal so hart war wie das Teakholz der Schiffsplanken. Twig war sehr dunkel und ungewöhnlich groß. In seiner übelriechenden Kombüse stand er meist über seine Töpfe und Kasserollen gebeugt wie ein Zauberer, der magische Tränke braute. Bolitho sagte langsam:»Zugegeben, wir haben die volle Strecke zurückgelegt. «Er versuchte, sich das vermißte Schiff vorzustellen, zu erraten, was ihm zugestoßen sein mochte.
8
Nicht Herr mehr meiner selbst, ruh' ich allein / auf einem Lager, dem einst du dich nahtest / obgleich als Trugbild eines Traumes nur. / Verblassen würde jeder Traum, wärst du mir nah'!