Er hatte mehrmals mit dem Schiffsarzt darüber gesprochen, doch das hatte ihm wenig geholfen. Gwyther hatte dem ungeduldigen Herrick auseinandergesetzt, daß ein» leichter Schnupfen«, der einem Landpfarrer in England nicht schadete, auf einer der Inseln Mann für Mann, Frau um Frau und Kind um Kind umbringen konnte, wenn die entsprechenden Vorbedingungen herrschten, andererseits aber kein Europäer die schrecklichen Qualen mancher Weihezeremonien überstehen würde, die hier vollzogen und widerspruchslos hingenommen wurden.»Das ist alles eine Frage des Ausgewogenseins, verstehen Sie?«hatte der Arzt gesagt.
Herrick wischte sich über das Gesicht. Es war wirklich eine Frage des Ausgewogenseins.
Borlase erschien an Deck und beobachtete ihn verstohlen.»Haben Sie eine Entscheidung getroffen, Mr. Herrick?«»Noch nicht.»
Herrick versuchte, die Frage in Gedanken beiseite zu schieben. Vor fünfzehn Tagen hatte er die Levu-Inseln verlassen und beobachtet, wie Bolitho an Land gerudert wurde. Inzwischen hätte er etwas von ihm hören müssen. Er fragte sich, was Bolitho sagen würde, wenn er von seinem Brief erfuhr. In seiner runden Handschrift hatte Herrick einen privaten Bericht an Kommodore Sayer in Sydney aufgesetzt und ihn zu der Brigg Pigeon geschickt, ehe sie Anker gelichtet hatte.
Herrick war über Kriegsgerichte und Untersuchungsausschüsse ausreichend informiert. Er wußte, daß ein Dokument, das zur Zeit der Vorgänge, die untersucht wurden, aufgesetzt worden war, weit mehr Gewicht besaß als ein sehr viel später niedergeschriebener, sorgfältig formulierter Bericht, wenn der Betroffene bereits wußte, welchen Weg die Dinge nehmen würden. Allerdings war schwer vorauszusehen, welche Beachtung die Ansicht eines gewöhnlichen Leutnants finden würde. Doch der Gedanke an dieses Schwein Raymond, der seinen Einfluß und seine Arglist benutzen würde, um Bolitho zu vernichten, konnte ihn nicht tatenlos beiseitestehen und zusehen lassen. Er sah Borlase an, der mit seinem kindlichen Lächeln wartete.
«Ich habe die Befehle des Kapitäns ausgeführt. Doch von der Narval oder den Piraten haben wir nicht das Geringste erfahren. Wenn es zu einem Seegefecht gekommen wäre,
hätten wir doch bestimmt etwas entdeckt. Treibholz, Tote, irgend etwas.»
Herrick zwang sich, zurückzudenken. Er hatte Hardacres kleinen Schoner vor der Nordinsel entdeckt, aber der Kapitän hatte ihm nichts zu berichten. Er war sehr froh, daß er Herrick begegnete, und noch glücklicher darüber, daß er zu der Siedlung zurückbeordert wurde. Für seinen Geschmack gab es in dieser Gegend zur Zeit zu viele Kriegskanus. Es war mehr als wahrscheinlich, daß Bolitho den Schoner mit neuen Anweisungen hierher nach Rutara zurückschicken würde. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Nein, er tat es schon wieder. Schloß die Augen. Wich der Verantwortung aus.
Er dachte ruhiger darüber nach. Auf einem Kriegsschiff konnte es jederzeit geschehen. Durch Zufall, in der Schlacht, durch Krankheit konnte ein Kapitän sterben. Dann übernahm sein ranghöchster Untergebener das Kommando. Und so weiter. Etwas anderes gab es nicht. Und hier, Tausende von Meilen von aller Welt entfernt, lag die Bürde nun auf ihm.
Unvermittelt sagte er:»Ich werde morgen Anker lichten lassen. «Er sah Borlases Augen aufblitzen.»Der Schoner hätte uns Nachricht bringen müssen. «Borlase schlug die Augen nieder.»Das ist ein schwerer Entschluß für Sie.»
«Verdammt noch mal, glauben Sie, das wüßte ich nicht selbst, Sie Narr!»
Borlase errötete.»Ich bedauere, daß Sie diese Haltung einnehmen, Sir.»
«Gut.»
Herrick sah den als Leutnant agierenden Swift träge die Steuerbordgangway entlangkommen. Er hatte die Wache. Es ist, als hätte man eine Messe voller Kinder und alter Männer, dachte Herrick wütend.
«Mr. Swift!«Der junge Mann fuhr zusammen.»Rufen Sie das Boot zurück und wechseln Sie die Mannschaft aus. Es gehört zu Ihren Aufgaben, daran zu denken!«Ross, der große Steuermannsmaat, der auf Bolithos Befehl gleichfalls provisorisch zum Leutnant ernannt worden war,
kam zu ihm geschlendert.
Grollend sagte Herrick:»Und fragen Sie mich jetzt nicht auch, was ich tun werde.»
Ross' Gesicht blieb unbeweglich.»Das war gar nicht meine Absicht, Sir.»
Bei der Pforte war das Scharren von Füßen zu hören, und Swift kam nach achtern gerannt, sein sonnenverbranntes Gesicht zuckte vor Aufregung.
«Sir! Der Wachtposten hat auf der Insel zwei Männer entdeckt. Als ich das Wachtboot anrief, schienen sie aus dem Nichts aufzutauchen.»
Herrick griff rasch nach einem Glas und richtete es auf das Ufer. Einen Augenblick konnte er wegen des tanzenden Dunsts, in dem die niedrigen Hügel wie Gelee zitterten, nichts ausmachen. Dann sah er sie: zwei schwankende, hilflose Gestalten, die sich gegenseitig stützten, manchmal fielen, sich wieder aufrichteten und weiter zum Ufer taumelten. Wie zwei betrunkene Vogelscheuchen, dachte er. Ross meldete laut:»Die Kanus haben sie auch entdeckt,
Sir.»
Herrick schwang das Teleskop herum. Masten, Wanten und dann offenes Wasser fegten durch das Blickfeld der starken Linsen, die sich dann auf das nächste Kanu richteten. Der Abstand betrug eine Meile, aber an seinen Absichten bestanden keine Zweifel. Die Eingeborenen mußten die beiden Männer auf der Insel auch entdeckt haben. Das nächstgelegene Kanu war ein imposantes Fahrzeug mit einem großen, burgähnlichen Aufbau am Heck, mit Kriegsschmuck aus Vogelfedern verziert und reich geschnitzt. Es muß mindestens vierzig Fuß lang sein, dachte er mit fachmännischem Interesse.
Er bellte:»Alarmieren Sie die Besatzung, aber schicken Sie sie nicht auf Gefechtsstation. Mr. Brass soll die
Zwölfpfünder feuerbereit machen. Ich werde nicht dulden,
daß diese Burschen unverschämt werden.»
Pfeifen trillerten unter den Decks, und aus allen Richtungen erschienen Seeleute und Marinesoldaten.
Borlase bemerkte:»Aufjeden Fall sind sie beide Weiße.»
Das Wachtboot, dessen Besatzung die beiden Männer am
Ufer noch nicht wahrgenommen hatte, erreichte dankbar den Schatten der Tempest. Herrick lief zur Gangway, und als er sich aus dem Schatten der Sonnensegel hinaus über die Reling beugte, spürte er die Sonne wie ein Brandeisen im Nacken. Schultz, der deutsche Bootsmannsmaat, blickte zu ihm auf.
Herrick schrie ihm zu:»Fahren Sie zurück zum Ufer. Sagen Sie den beiden Männern, sie sollen zu Ihnen herausschwimmen. Schicken Sie ihnen einen Mann entgegen, wenn es sein muß. Aber bleiben Sie mit dem Boot vom Strand fort.»
Die Köpfe im Boot wandten sich zwischen der Insel und den Kanus hin und her.
Herrick fügte hinzu:»Noch was, Schultz! Überlassen Sie das Anrufen einem anderen.«»Ja, Sir. Ich verstehe. «Er grinste.
«Mein Gott!«Herrick zog sich wieder in den Schatten zurück.»Diese verdammte Hitze!»
Er sah zu den lose aufgegeiten Segeln hinauf, die innerhalb von Minuten gesetzt werden konnten. Die Tempest war jämmerlich unterbemannt, aber so einsatzbereit für einen Kampf, wie ein Schiff es nur sein konnte. Eine Stückpforte wurde geöffnet und einer der Zwölfpfünder knarrend ins Sonnenlicht ausgefahren. Mr. Brass, der Stückmeister, stand, die Hände in die Hüften gestützt, und beobachtete die von ihm bestimmte Mannschaft beim Laden und Einrammen der glänzenden, schwarzen Kugel. Neben dem Stückmeister versuchte Midshipman Romney, klein und zierlich neben den robusten Matrosen, keinem im Weg zu stehen.»Feuerbereit, Sir.»