Während der ganzen drei Wochen hatten sie nur zwei andere Schiffe in Rufweite passiert, zwei kleine holländische Schoner. Die Begegnungen hatten eine Woche auseinandergelegen, aber keiner der beiden Kapitäne hatte etwas anderes gesehen als die üblichen Eingeborenenflottillen zwischen den vielen Inseln. Und es war immer klug, um sie einen weiten Bogen zu machen.
Bolitho fügte hinzu:»Unsere Position ist wieder im Süden von Tongatapu. Wenn wir wenden und der Wind so günstig bleibt, könnten wir morgen früh Land sichten. «Herrick wartete, er erriet seine Gedanken. Bolitho sagte:»Ich will das Schiff nicht mitten zwischen die Riffe setzen, aber wir können Boote an Land schicken. Der Häuptling dort ist uns angeblich freundlich gesonnen. Unsere Schiffe sind ihm nicht unbekannt, wie Mr. Lakey sagt.»
Herrick schnitt eine Grimasse.»Ich nehme trotzdem ein paar geladene Pistolen mit, Sir! Zu viele brave Seeleute sind schon hinterrücks niedergemacht worden. «Bolitho drehte sich nach einer Bewegung im Wasser um: ein Hai, der einen kleineren Fisch überfiel. In Sekunden war die Wasseroberfläche wieder glatt, und nur das gelegentliche Auftauchen der Schwanzflosse verriet, daß sie einen geduldigen Begleiter hatten.
«Manche Eingeborene haben guten Grund, uns zu hassen«, erwiderte er und berührte unwillkürlich die Haarsträhne, die sein rechtes Auge halb verdeckte.
Herrick bemerkte die Bewegung, sie war ihm so vertraut wie Bolithos ruhige graue Augen. Die Strähne verbarg eine tiefe, grausame Narbe an der Stirn. Als junger Leutnant war Bolitho von einem Eingeborenen niedergeschlagen und beinahe getötet worden, als er mit einer Gruppe Matrosen auf einer Insel Frischwasser beschaffen wollte. Herrick blieb ungerührt.»Trotzdem werde ich zuerst schießen, Sir! Ich bin zu weit herumgekommen, um mir mit einer Keule den Schädel einschlagen zu lassen. «Bolitho wurde plötzlich ungeduldig. Der Gedanke, daß die Eurotas von kriegerischen Eingeborenen überwältigt worden sein könnte, entsetzte ihn.
«Rufen Sie den Steuermann, Thomas. Wir werden einen neuen Kurs abstecken und beschließen, was wir unternehmen sollen.»
Herrick sah ihm nach, wie er mit versonnenem Gesicht zur Kampanje schritt. Er sagte zu Keen:»Achten Sie auf Ihre Wache. Spätestens in einer Stunde brauchen wir alle Mann. «Keen antwortete nicht. Auch er erinnerte sich an Viola Raymond, sie hatte ihn gepflegt, nachdem er verwundet an Land gebracht worden war. Wie manchem anderen war ihm ihre Beziehung zum Kommandanten bekannt und auch, was Herrick davon hielt. Keen mochte sie beide, besonders aber Bolitho. Wenn der Viola Raymond suchen und damit neue Gefahren heraufbeschwören wollte, so war das seine Angelegenheit. Er beobachtete Herricks besorgtes Gesicht. Oder etwa nicht?
In dem kleinen Kartenraum unter der Kampanje, neben der Steuermannskajüte, beugte Bolitho sich über den Tisch und sah zu, wie Lakey sich mit Zirkel und Lineal zu schaffen machte.
«Wenn der Wind anhält, morgen Mittag. «Lakey blickte auf, sein hageres Gesicht hob sich nur als Silhouette vor einem offenen Bullauge ab.
Dahinter schimmerte das Meer schmerzhaft in den Augen. Wieviel schlimmer mußte es auf einem großen, mit Deportierten überladenen Frachter sein. Wenn die Eurotas irgendwo auf Grund saß, konnte ihre Lage schnell wirklich kritisch werden. Der Wunsch zu entkommen, für die geringste Uberlebenschance frei zu sein, konnte Menschen zum Äußersten treiben.
>Wenn der Wind anhält.< Das muß sich jedem Seeoffizier mit der Zeit ins Herz eingraben, dachte Bolitho. Er sah Lakey nachdenklich an.»Dann bleibt es dabei. Hundertvierzig Meilen bis Tongatapu. Wenn wir nach der Kursänderung fünf Knoten schaffen, halte ich Ihre Schätzung für angemessen.»
Lakey hob die Schultern. Lob oder Kritik berührten ihn nur selten.»Mir wird wohler sein, wenn ich das Mittagsbesteck gesehen habe, Sir. «Bolitho lächelte.»Also gut.»
Er drehte sich auf dem Absatz um und eilte aufs Achterdeck zurück, denn er wußte, Lakey würde bereit sein, sobald er benötigt wurde.
«Also, Thomas, wir wenden zur halben Stunde und gehen auf Nordwestkurs. Das gibt uns Seeraum, wenn wir uns den Riffen nähern. Außerdem sind wir dann in besserer Position, um eine andere Insel anzulaufen, sollte der Wind umspringen.»
Als ein Schiffsjunge das Halbstundenglas neben dem Kompaß umdrehte, hatten die Matrosen schon die Brassen besetzt und holten keuchend die großen Rahen der Fregatte herum.
Die Tempest gehorchte dem Ruder und wälzte sich schwerfällig auf den anderen Bug. Bolitho verfolgte genau, wie lange das Manöver dauerte. Trotz des schwachen Windes hatte er jeden verfügbaren Mann an Deck und in der Takelage eingesetzt, denn er hielt es für töricht, bei Routinemanövern Nachlässigkeiten und Flüchtigkeit zuzulassen. In der Schlacht, wenn der größte Teil der Besatzung an den Geschützen und mit Reparaturen beschäftigt war, mußte das Schiff von viel weniger Leuten bedient werden. Dennoch hatte die Tempest soeben eher mit der gelassenen Würde eines Linienschiffs als mit der Behendigkeit einer Fregatte reagiert. Stets war die Gefahr groß, selbstzufrieden zu werden und den knochenbrechenden und undankbaren Geschütz- und Segel-drill unter Gefechtsbedingungen zu verschieben. Hier draußen, wo man manchmal monatelang kein anderes Kriegsschiff zu Gesicht bekam, fiel der nötige Exerziereifer schwer, besonders wenn man selbst ihn nur zu gern vergaß. Bolitho verfügte über eigene bittere Erfahrung. Als Kommandant der Undine war er seinerzeit zum offenen Kampf mit einer starken französischen Fregatte gezwungen worden, der Argus unter dem Befehl von Le Chaumareys, einem der erfahrensten und fähigsten Kommandanten des Admirals Suffren. Le Chaumareys verfügte über einen Kaperbrief des Eingeborenenherrschers Muljadi, war aber im besten Sinn des Wortes französischer Offizier geblieben. Er hatte Bolitho sogar davor gewarnt, es zur gleichen Zeit mit der Argus, mit Muljadis Piratenflotte und der lähmenden Inkompetenz der Regierungen am anderen Ende der Welt aufzunehmen. Doch konnte gerade die Machtprobe zwischen ihren beiden Schiffen über das Geschick eines großen Teils Indiens entscheiden.
Wie jetzt auf der Tempest, war Bolitho mit einer bunt zusammengewürfelten Besatzung gesegnet, und alles, was er dem Franzosen und seiner gutgedrillten Mannschaft entgegenzusetzen hatte, waren Jugend und frische Ideen. Le Chaumareys hatte seine Heimat schon vor Jahren verlassen. Sein jetziges Kommando unter einer fremden Flagge sollte sein letztes sein, ehe er sich ehrenvoll nach seinem geliebten Frankreich zurückzog. Doch es waren gerade seine Vorliebe für Routine, sein Vertrauen zu bewährten Methoden und Manövern gewesen, die ihn den Sieg und das Leben gekostet hatten.[11]
Bolitho fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er zu selbstzufrieden oder zu erschöpft sein würde, einer wirklichen Herausforderung entgegenzutreten. Oder ob er auch künftig die Schwächen würde erkennen können, wenn kein anderer da war, um ihn darauf hinzuweisen.»Kurs Nordwest, Sir. Voll und bei. «Herrick wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn.»Und auf diesem Bug ist es auch nicht kühler.»
Bolitho nahm das Teleskop von Midshipman Swift entgegen und richtete es nach vorn. Er blickte durch die straffen Wanten und Stage, über die goldene Schulter der Galionsfigur hinweg, und weiter ins Nichts.»Gut. Schicken Sie die Freiwache unter Deck. «Er hielt Herrick zurück, der schon davoneilen wollte.»Wie ich hörte, wünscht Mr. Borlase, daß Sie heute einen Seemann bestrafen?»