Mit Abscheu starrte Bolitho auf die zerschmetterte Muskete zu seinen Füßen nieder. Eine abgetrennte Hand hielt nach wie vor den Kolben umklammert, als sei sie trotz Alldays wildem Axthieb noch lebendig.
Gepreßt sagte er:»Weiter, Jungs! Noch zwei Stockwerke!«Er schwenkte den Degen, und in seinem Kopf schwirrte der gleiche krankhafte Wahnsinn, der seine Männer erfaßt hatte.
Aber an der letzten Treppenwindung stießen sie auf eine dichte Linie Soldaten, deren Musketen ohne zu wanken auf die andrängende Masse der Matrosen gerichtet waren, und deren aufgepflanzte Bajonette mörderisch glitzerten. Jemand schrie einen Befehl, und ihre ganze Welt explodierte in Musketenfeuer. Bolitho wurde von fallenden Leibern beiseitegestoßen, in seinen Ohren gellten Schreie und Flüche, als die vordere Reihe der Soldaten niederkniete und nun das zweite Glied auf kürzeste Entfernung feuerte. Die steinernen Stufen wurden schlüpfrig von Blut; rechts und links stießen und drängten sich die Männer, um dem Gemetzel zu entfliehen. Der Schwung des Angriffs, Bolitho wußte es, war gebrochen. Gewiß, sie hatten die Festung unbemerkt erreicht, und das hatte sie in ein irres Hochgefühl versetzt, aber nun war es in kopflose Panik umgeschlagen. Er sah die Schulter an Schulter stehenden Soldaten, die jetzt die Treppe herunterkamen; ihre Bajonette waren bereit, das Vernichtungswerk zu vollenden.
Mit einem Schrei, der wie verzweifeltes Aufschluchzen klang, warf sich Bolitho über die letzten Stufen hinauf; sein Degen schlug die vordersten beiden Bajonette beiseite, die nach seinem zerfetzten Hemd stießen, und mit aller Kraft hieb er auf die Männer des zweiten Gliedes ein. Die erschrockenen Soldaten standen zu dicht, um ihre langen Musketen voll ausnützen zu können, und er sah im Gesicht eines Mannes, den sein Degen wie ein Puppe zur Seite fegte, eine dunkelrote Wunde aufklaffen. Er fühlte, wie sie taumelten und gegen ihn stießen, ja sogar ihren warmen Schweiß, als sie wie eine lebendige Flutwelle über die Steinstufen quollen. Jemand stieß ihm einen Gewehrkolben ins Kreuz, und mit schmerzverdunkeltem Blick sah er einen barhäuptigen Offizier, der verzerrten Gesichts seine Pistole im Anschlag hielt. Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung riß Bolitho den Degen hoch und führte einen so starken Hieb nach dem Mann, daß er seine Schulter im Aufprall erzittern fühlte. Die Klinge fuhr dem Offizier durch Kragen und Epaulette, in lautlosem Todesschrei öffnete sich sein Mund, und aus der durchschnittenen Arterie schoß ein Blutstrahl empor wie eine scheußliche rote Blume. Immer mehr Matrosen warfen sich nun in das Kampfgewühl. Bolitho selbst merkte, wie er rückwärts stolperte, aber jemand hielt ihn fest und schrie seinen Namen. Dann wurde er wieder vorwärtsgedrängt, über Leichen und schreiende Verwundete hinweg; und die britischen Matrosen stürmten auf das helle Rechteck am oberen Ende der Treppe zu.
Wie im Traum sah Bolitho, daß Rookes Degen in einen Mann neben der Tür fuhr und der Leutnant weiterstürmte, ohne auch nur aus dem Tritt zu kommen. Ein langer, bezopfter Matrose hieb sein Enterbeil dem sterbenden Franzosen mit solcher Kraft in die Schulter, daß er den Fuß gegen den Körper des Mannes stemmen mußte, um es wieder herauszureißen.
Allday stützte ihn. Sein mächtiges Beil pfiff wie die Sense eines Schnitters, sobald ein Überlebender versuchte, über den einzigen Fluchtweg, die Treppe, nach unten zu entkommen.
Bolitho verdrängte Schmerz und Übelkeit — ihm wurde klar, daß seine siegestrunkenen Männer, wenn er nicht sofort etwas tat, jeden Franzosen umbringen würden, der noch im Turm war. Er schob Allday beiseite und folgte den anderen in den Sonnenschein hinaus.»Die Flagge!«rief er Rooke zu.»Nieder mit ihr, Mann!»
Mit wilden Augen fuhr Rooke herum. Da sah er Bolitho und kam wieder zu Sinnen.»Hast du gehört? Los, Strohkopf!«krächzte er. Ein Matrose neben ihm, der gerade dabei war, einen verwundeten Franzosen mit nackten Händen zu erwürgen, ließ mit einem Schmerzensruf davon ab, weil Rooke ihm die flache Klinge auf die Schulter gehauen hatte.
Allday wartete, bis die französische Flagge auf den Steinplatten lag; dann wickelte er sich einen britischen Wimpel vom Leib und reichte ihn dem atemlosen Matrosen.»Heiß den, Bursche!«Mit geschultertem Enterbeil sah er zu, wie die britische Flagge hochstieg und sich in der warmen Brise entfaltete.»Da haben sie was dran zu kauen!«grinste er.
Bolitho trat an die Brustwehr und stützte sich schwer auf die verwitterten Steine. Unter ihm starrten die französischen Artilleristen verzweifelt zu der britischen Flagge auf und dann zur Hyperion hinaus, die eben über Stag ging und Kurs auf die Hafeneinfahrt nahm. Ihm war speiübel, und er war todmüde, trotzdem blieb noch viel zu tun. Mühsam wandte er sich um und musterte die atemlosen Sieger. Von den fünfundzwanzig, mit denen er angetreten war, schienen nur noch wenige übrig zu sein.»Bringt die französischen Soldaten in einen sicheren Gewahrsam«, sagte er. Tomlin erschien in der offenen Tür.»Nun?»
Der Bootsmann tippte sich grüßend mit der Faust an die Stirn.»Hier is' 'n französischer Offizier, Sir. Der Kommandeur der Batterie. «Tomlins Fangzähne glitzerten vor Vergnügen.»Hat sich ergeben, Sir.»
«Ja, schon gut. «Er konnte dem Franzosen nicht ins Gesicht sehen — dieser wunde, gedemütigte Blick des Besiegten.»Mr. Roo-ke«, befahl er,»gehen Sie hinunter und entwaffnen Sie die Batterie. Dann öffnen Sie das Festungstor, begrüßen Hauptmann Ashby und richten ihm mein Kompliment für gute Arbeit aus.»
Rooke eilte hinweg, und Bolitho hörte fernes Hurrarufen. Ob vom Schiff oder von Ashbys Marine-Infanteristen, das wußte er nicht, und es war ihm auch völlig gleichgültig.
Jetzt schwamm Alldays Gesicht in sein Blickfeld.»Sind Sie verletzt, Captain?«fragte der Bootsmann besorgt.»Ich glaube, Sie sollten sich ein bißchen ausruhen.»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Lassen Sie mich nachdenken. Ich muß nachdenken!«Er wandte sich um und erblickte Seton, der bleich und entsetzt auf einen verwundeten Franzosen zu seinen Füßen starrte. Der Mann hatte einen Stich in den Magen bekommen. Blut strömte aus seinem offenen Mund, aber er klammerte sich noch ans Leben; es war herzzerreißend und mitleiderregend, wie seine Worte im Blut erstickten. Vielleicht empfand er in diesen letzten Augenblicken Seton irgendwie als Retter.
«Helfen Sie ihm, mein Junge«, sagte Bolitho.»Er kann keinen Schaden mehr anrichten. «Aber Seton wich zurück, seine Lippen zitterten, als der Mann seinen Schuh mit blutiger Hand berührte. Seton konnte das Zittern nicht beherrschen, und Bolitho sah, daß sein Dolch noch in der Scheide stak. Der muß ein dutzendmal durch die Hölle gegangen sein, dachte er. Laut aber sagte er:»Er ist nicht mehr unser Feind. Lassen Sie ihn wenigstens nicht sterben, ohne daß jemand bei ihm ist!«Er wandte sich ab, konnte nicht mitansehen, wie der verstörte Midshipman sich neben diesen blutenden Todgeweihten hinkniete, der seine Hand umklammerte, als sei sie das Kostbarste auf der Welt.
«Das kommt noch, Captain«, sagte Allday leise.»Mit der Zeit lernt er' s schon.»
«Es ist kein Spiel, das man lernen kann, Allday«, antwortete Bo-litho leeren Blickes.»Und ist auch nie eines gewesen.»
Ashby kam die Treppe heraufgepoltert, ein mächtiges Grinsen spaltete sein Gesicht.»Bei Gott, Sir! Eben gehört, was Sie getan haben!«Begeistert schlug er die Hände zusammen.»Bei Gott, Sir, das war großartig, wirklich!»
Bolitho blickte zur Hyperion hinunter. Sie hielt jetzt direkt auf die Hafeneinfahrt zu; er konnte die Matrosen unterscheiden, wie sie zu den Booten schwärmten und sie klarierten.
«Sie müssen quer durch die Insel zu dem anderen Fort marschieren, Ashby«, sagte er zu dem Hauptmann.»Die Besatzung wird sich wahrscheinlich schnell ergeben, wenn Sie dem Kommandanten klarmachen, daß er jetzt allein ist.»