Segrave spürte das Messer wie eine Flamme über seine Hüfte zucken und wußte, mit dem zweiten Stich würde sie seinen ungeschützten Rücken treffen. Aber dann knallte es, und das Messer flog zu Boden. Die Frau fiel mit blutendem Mund gegen die Wand. Jay hatte sie geschlagen.
Der junge Seemann kam jetzt in die Kajüte gerannt.»Helfen Sie Mr. Segrave«, befahl ihm Jay, schob die Frau zur Seite und zog einen Lederbeutel unter ihrem nackten Leib hervor.
Segrave untersuchte stöhnend den Schnitt in seiner Hose. Das Messer hatte ihn ganz schön erwischt. Überall war Blut. Er biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Der Seemann wickelte ein Hemd um die Wunde, aber der Stoff war schnell durchtränkt.
Jay riß die Ledertasche auf, fand die Karte und rollte sie mit zitternden Fingern halb auf.
«Ich muß sofort den Kommandanten sprechen«, sagte er dann, richtete sich auf und sah in Segraves schmerzverzerrtes Gesicht.»Sie haben mir gerade das Leben gerettet. Noch etwas Geduld, ich bin gleich zurück. «Seine Stimme klang sanft.
Oben an Deck schien der Abend zu dunkeln, die Wolken hatten Ränder aus schimmerndem Gold.
«Ihr wirklicher Zielhafen ist Kapstadt, Sir«, rief Jay hinüber.»Ich habe hier eine Nachricht — in französisch, denke ich.»
Tyacke befahclass="underline" »Schicken Sie mir den Skipper und diese Ledertasche herüber. Und den Deserteur. Ich laufe zum Geschwader weiter. Werden Sie und Mr. Segrave an Bord klarkommen?»
Jay grinste.»Natürlich. Jetzt haben wir hier keine Probleme mehr.»
Der Skipper der Albacora protestierte, als ein Seemann ihn packte.»Legen Sie ihn in Eisen«, knurrte Jay.»Wegen Mordversuchs an einem Offizier, Tötung von Sklaven und Handel mit dem Feind. «Als der Mann plötzlich schwieg, nickte er.»Aha, du hast mich also ganz gut verstanden.»
Als das Boot mit den Gefangenen zur Miranda zurückgekehrt war, plazierte Jay seine Männer sehr sorgfaltig auf der Albacore. »Wir nehmen gleich Fahrt auf. Beobachtet die Crew genau, und im
Zweifel schießt ihr sofort, klar?»
Mit dem Bootsmann kehrte er in die Kajüte zurück, wo der junge Matrose noch immer Segraves Blutung zu stoppen versuchte, der sich erbittert wehrte. Da drückte Sperry ihn zu Boden, der junge Matrose und Jay schnitten ihm die blutige Hose auf und legten die Wunde frei.
«Mit ein, zwei Stichen kann ich das nähen«, sagte Sperry.»Besorgt mehr Verbandszeug.»
«Um Gottes willen, was ist denn das?«rief Jay.
Der Midshipman lag jetzt da wie tot. Sein Gesäß und seine Oberschenkel waren voller Wunden und Narben — den Spuren zahlreicher Auspeitschungen. Aber nicht auf der Miranda. Er hatte die Schmerzen dieser Narben und halb verheilten Wunden sechs Wochen lang erduldet, ohne ein Wort zu sagen.
«Er ist ohnmächtig. Ich hole meine Sachen, Bob.»
«Bringt Brandy mit oder Rum.»
Der Midshipman lag immer noch reglos da, Blut sickerte durch seine Verbände. Ohne Segrave würde ich selber jetzt hier liegen, dachte Jay und blickte zu dem jungen Seemann hoch.»Das bringen wir auf der Miranda wieder in Ordnung, klar? Und wer ihn noch mal schikaniert, kriegt es mit mir zu tun.»
Als Midshipman Segrave wieder zu sich kam, sah er sofort, wie dunkel der sternenübersäte Himmel über ihm war. Er spürte Wolldecken und ein Rissen unter seinem Kopf. Ein Schatten beugte sich über ihn.»Geht's besser?«fragte Jay.
Dann kam der Schmerz wieder, pochte wie sein Herz. Er schmeckte Brandy im Mund und versuchte sich zu erinnern. An Hände, die ihn festhielten, an Schmerzen, seine Ohnmacht. Es schauderte ihn.
«Ist wieder alles in Ordnung?«fragte er schwach.
«In Ordnung? Natürlich!«Jays Stimme klang fröhlich.»Sie haben mir das Leben gerettet und sind der Held des Tages. Nur Ihretwegen haben wir jetzt eine Prise, die Albacora.»
Dann griff Jay vorsichtig nach Segraves Arm.»Wer hat Sie so ausgepeitscht?»
Doch der Midshipman schloß abwehrend die Augen. Was würde eine Antwort ihm bringen? Nichts. Aber der Mastergehilfe Jay, ein
Kerl aus Eisen, hatte ihn, Segrave, einen Helden genannt. Nur das zählte.
IV Wer suchet, der findet
In der Achterkajüte der Themis war es heiß wie in einem Ofen trotz der offenen Stückpforten und der Sonnensegel über den Niedergängen. Bolitho saß am Tisch und prüfte den Inhalt der Ledertasche, die ihm von der Miranda geschickt worden war. Commodore Warren hockte zusammengesunken in einem Sessel, blickte mit aschfahlem Gesicht nach draußen und hoffte auf ein wenig frische Luft. Ab und zu zupfte er sich das Hemd oder die Uniformjacke vom schweißnassen Körper.
Neben Bolitho machte sich Yovell, der rundliche Schreiber, eifrig Notizen und schob dabei immer wieder seine goldgefaßte Brille hoch.
«Hat Sie die Antwort des Generals überrascht, Sir Richard?«fragte Warren plötzlich.
Bolitho hob den Blick. Was die echte Karte der Albacora zeigte, war interessant. Doch was der lange Brief eines französischen Kaufmanns aus Kapstadt enthielt, war noch wichtiger.
«Ich hab' sie erwartet, Commodore«, antwortete er.»Sir David Bairds Soldaten werden jetzt gerade landen. Das können wir nicht mehr verhindern.»
Leutnant Jenour an den Heckfenstern beobachtete, wie reglos die Miranda über ihrem Spiegelbild auf dem unbewegten Wasser stand. Ihr Kommandant hatte gerade noch Glück gehabt, denn jetzt war der Wind völlig eingeschlafen. Er drehte sich um, als Bolitho sagte:»Ihr Französisch ist doch hervorragend, Stephen. Fiel Ihnen etwas auf, als Sie mir diesen Brief übersetzten?»
Jenour versuchte, die Hitze zu ignorieren. Bolitho sah von ihnen allen am frischesten aus, wie er so in Breeches und Hemd am Tisch saß; sein Uniformrock lag über einer Seekiste. Seit Mirandas Segel in der Morgendämmerung an der Kimm aufgetaucht waren, war er ruhelos in seiner Kajüte auf und ab gegangen. Jetzt, in der Mittagshitze, hörte man gereizte Stimmen an Deck. Diese Sonnenglut und das Warten war gefährlich für die Disziplin. Auf See und in Fahrt wäre es anders gewesen.
Jenour rieb sich das Kinn.»Ich konnte keinen Code entdecken, Sir Richard. Solche Briefe schreibt ein Kaufmann dem anderen und läßt sie per Schiff befördern. Es ist doch nicht ungewöhnlich, daß französische Kaufleute in Kapstadt leben, oder?»
Bolitho rieb sich die Stirn. Der Brief enthielt ein Geheimnis, ganz bestimmt. Aber warum konnte es selbst der kluge Jenour nicht entdecken?
Yovell, der in seine Notizen starrte, hatte den richtigen Einfall.»Es ist die Schlacht von Trafalgar, Sir. Der Schreiber berichtet darüber seinem Freund.»
Bolitho sah seine Männer an.»Sehr gut, Yovell. Die Truculent segelte ungeheuer schnell von England hierher, und niemand hier wußte bei unserer Ankunft von der Schlacht und Nelsons Tod. Bis auf diesen Briefeschreiber. Der Sklavenhändler muß den Brief also von einem Franzosen bekommen haben, der vor uns hier ankam!»
Warren tupfte sich sorgfältig den Mund ab.»Ein französisches Kriegsschiff?»
Jenour ballte ungläubig die Fäuste.»Sollte es vor Brest die Blockade durchbrochen haben?»
«Der Schlüssel liegt in Kapstadt, meine Herren. Aber ich weiß noch nicht, wo. «Bolitho beugte sich über die Karte.»Lassen Sie den Kommandanten der Miranda rufen, Stephen.»
Als Jenour schon die Kajüte verlassen wollte, räusperte sich Warren entschuldigend.»Ich hatte es ganz vergessen, Sir Richard, aber Leutnant Tyacke ist bereits an Bord. Er brachte die Tasche persönlich.»
Bolitho spürte Ärger in sich aufsteigen. So ging das nicht: zwei Fregattenkapitäne, die einander haßten, und ein Commodore, den die ganze Operation nicht im geringsten interessierte. Dazu ein Haufen Schiffe, die noch nie miteinander manövriert hatten. Das mußte geändert werden, schnell. Doch zuerst kam Tyacke.