Er rannte die letzten Stufen hoch und sah oben Davy und Keen, die ihre Fernrohre nach vorn gerichtet hatten.
«Was ist los?»
Davy drehte sich um, mit Mühe schluckend, und konnte seine Blicke nicht von Bolithos goldbetreßtem Rock lassen.»Der Schoner hat das Signal nicht bestätigt, Sir.»
Bolitho sah von ihm zur Signalflagge hoch, die sich jetzt frei und hell gegen die grauen Bramsegel abhob.»Sind Sie sicher?»
Mudge knurrte:»Anscheinend will er nicht, Sir. Wenigstens scheint Mr. Allday das zu denken.»
Statt zu antworten, suchte Bolitho den Landstreifen vor dem Bug sorgfältig ab. Dort lag alles noch im tiefen Schatten, nur hier und da verriet ein heller Strich den nahen Sonnenaufgang. Aber der Schoner war klar genug zu sehen, er stand genau in Linie zum stampfenden Bugspriet der Undine; seine Segel leuchteten fast weiß vor den Klippen und gezackten Felsen. Herrick mußte das Signal gesehen haben. Er hatte bestimmt darauf gewartet, seit der Wind ausgeschossen war. Bolitho blickte zum Masttopp empor. O Gott, der Wind hatte noch weiter gedreht und mußte jetzt aus Westsüdwest kommen.
«Aufentern lassen, Mr. Davy!«rief er.»Royalsegel setzen!»
Er wandte sich um, und in dieser kurzen Sekunde sah er sie alle ganz klar: Mudge, von Zweifeln geplagt; Carwithen, dessen Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepreßt waren; die Rudergasten, die nackten Rücken der Geschützbedienungen und Keen mit seinen Signalgasten…
Die Bootsmannspfeifen schrillten. Schattenhaft glitten die Toppmatrosen an den Webleinen empor, um mehr Segel zu setzen.
Davy rief herüber:»Vielleicht will Mr. Herrick weitermachen wie geplant, Sir!»
Mit einem Blick auf Allday, der aufmerksam den Schoner beobachtete, erwiderte Bolitho gelassen:»Sieht beinahe so aus, Mr. Davy.»
Unter dem Zug der obersten Segel tauchte die Undine noch tiefer in das milchige Wasser. Schaumfetzen flogen über Back und Netze wie Gespenster. Der Schiffsrumpf erzitterte stöhnend unter dem Druck, und wenn Bolitho nach oben blickte, sah er, daß die Royalrahen sich durchbogen. Der Wimpel am Masttopp war jetzt deutlich zu erkennen; die Uniformröcke der Seesoldaten, die in schwankenden Reihen bei den Finknetzen angetreten standen oder mit ihren Musketen und Drehgeschützen oben in den Toppen knieten, leuchteten rot wie
Blut.
Als er befahclass="underline" »Signal wiederholen, Mr. Keen!«kam ihm seine eigene Stimme fremd vor.
Soames stand am Verschlußblock eines Zwölfpfünders und hielt sich mit beiden Händen am Decksgang fest. Er starrte auf das Land. Dann blickte er nach achtern zu Bolitho und zuckte kurz mit den Schultern. Im Geist hatte er Herrick wohl bereits abgeschrieben.
«Das wird nichts!«sagte Keen heiser.»Ohne Ruder treibt der Schoner bei diesem Wind an der Insel vorbei. Bestenfalls explodiert er mitten in der Durchfahrt!»
Da schrillte Penns Knabenstimme vom Geschützdeck:»Ich habe eine Trompete gehört!»
Bolitho rieb sich die Augen, in denen schmerzhaft das Salz biß. Also eine Trompete. Ein Posten in der Festung mußte den Schutz der Mauern verlassen und auf See hinausgeblickt haben. Den Schoner hatte er wohl sofort gesehen, und in ein paar Minuten mußte auch die Undine entdeckt werden.
Das Brausen der See, die Geräusche des Schiffs wirkten plötzlich lauter denn je; jedes Stück des Riggs und der Segel knallte und summte im Chor, als die Undine dem Land und dem hellen Dreieck aus Gischt, welches die Einfahrt in die Passage markierte, immer näher kam.
Ein dumpfer Krach tönte über das Wasser, und ein Mann rief:»Sie haben das Feuer eröffnet, Sir!»
Bolitho griff nach einem Teleskop. Mit grimmigen Gesichtern hockten die Geschützbedienungen vor ihren Kanonen oder warteten hinter den geschlossenen Stückpforten. Hofften. Fürchteten sich…
Es war schwierig, das Glas einzustellen. Mit gespreizten Beinen suchte er festen Stand auf dem schlüpfrigen, schwankenden Deck. Die Masten des Schoners kamen ins Blickfeld und verschwanden wieder, und der kleine blutrote Fleck der Kriegsflagge, der vorher noch nicht dagewesen war. Er spürte sich lächeln, obgleich ihm eigentlich mehr nach Weinen zumute war, obwohl er verzweifelt wünschte, seine flehenden Worte über diese zwei Meilen schreien zu können. Herrick zeigte ebenfalls die Farben. Für ihn war der Schoner nicht einfach eine schwimmende Bombe; er war ein Schiff — sein Schiff. Oder vielleicht wollte er mit dieser simplen Geste Bolitho etwas erklären. Ihm zeigen, daß er verstand.
Noch ein Krach; und dieses Mal sah er den Pulverrauch von der Batterie aufsteigen, ehe der Wind ihn auseinanderriß. Fedrig sprang eine Gischtfontäne hoch, aber weit vom Schoner entfernt. Bolitho hielt ihn im Glas. Er krängte so, daß das
Unterwasserschiff über dem spritzenden Gischt sichtbar wurde. Bei diesem Wind konnte Herrick für den letzten und gefährlichsten Teil seiner Fahrt das Ruder nicht festlaschen, das wußte er.
«Der Schuß saß zu hoch, Sir!«schrie Davy.
Diese Worte rissen Bolitho in die Wirklichkeit zurück, und er senkte das Glas. Der Kanonier auf der Festung hatte also auf die Undine gezielt, nicht auf den kleinen Schoner. Ehe Muljadis Leute gemerkt hatten, was los war, mußte Herrick bereits so dicht unter der Küste gewesen sein, daß er im toten Winkel lag.
Bolitho blickte wieder hin, als eine Doppelexplosion übers Wasser rollte. Er sah die Mündungsfeuer nur kurz aufblitzen, dann stiegen die Zwillingsgeyser in Linie mit dem Schoner, aber weit hinter ihm auf.
Hauptmann Bellairs vergaß seinen blasierten Gleichmut, packte seinen Sergeanten beim Arm und brüllte:»Bei Gott, Sar'nt Coaker, er will sie selbst auf Grund setzen!»
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis sich diese Erkenntnis über das ganze Deck der Fregatte verbreitet hatte. Aber dann, als die Worte von einem Geschütz zum anderen bis zum Bug gedrungen waren, sprangen die Männer auf, brüllten wie die Irren, schwenkten ihre Halstücher oder hüpften wie Kinder auf dem sandbestreuten Deck. Von den Masten und auf der Back erscholl Geschrei, und selbst Midshipman Armitage, der sich eben noch an eine Belegklampe geklammert hatte, um nicht zusammenzubrechen, schwenkte seinen Hut und gellte:»Los! Ihr werdet es ihnen schon zeigen!»
Bolitho räusperte sich mühsam.»Frage an Masttopp: Fregatten gesichtet?»
Er versuchte krampfhaft, nicht an den mit Pulver vollgestopften Laderaum des Schoners zu denken. Und nicht an die Lunte, die in der Stille des Schiffsrumpfes bestimmt schon knisternd brannte.
«Aye, Sir! Er sieht die Rahen der ersten Fregatte hinter der Landspitze!«Selbst Davy hatte wilde Augen und schien, den bevorstehenden Kampf vergessend, von Herricks Selbstaufopferung überwältigt zu sein.
Erneutes Geschützfeuer, und nun spritzten die Fontänen rings um den Schoner hoch. Vielleicht kamen sie von der nächsten der ankernden Fregatten oder von kleineren Geschützen auf dem winzigen Strand, der die Einfahrt beherrschte. Bolitho spürte, daß er die Zähne schmerzhaft fest zusammengebissen hatte.
Zum mindesten wußten die Franzosen jetzt, daß irgend etwas geschah, aber sie würden das volle Ausmaß der Gefahr noch nicht gleich erkennen.
Ein fast gleichzeitiges Aufstöhnen der gespannt beobachtenden Matrosen ließ Bolitho das Glas heben; er sah die Bramstenge des Schoners umknicken und dann in einem flatternden Chaos von Leinwand und Rigg niedersinken.
«Zurück, Thomas! Um Gottes willen, wende!«flüsterte er.
«Schon wieder ein Treffer, Captain«, sagte Allday.»Und diesmal schlimmer.»
Bolitho riß sich los, er durfte nicht an Herrick denken. Das mußte warten. Denn in wenigen Minuten würde die Undine in Reichweite dieser Kanonen sein, wenn sie mit verzweifeltem Mut in die Passage einlief.