»Jederzeit.«
»Wo?«
»In den Victorin-Studios in Nizza.«
»Na, dann nix wie hin!« sagte ich und stand auf. Gamma wälzte sich aus seinem Stuhl. »Sie sind das einzig Gute in unserem Scheißge werbe, Roger«, sagte er.
An diesem Nachmittag sah ich mir mit Serge Gam ma fünf Stunden lang alles an, was Torrini bisher gedreht hatte und was kopiert worden war. Der Vor führraum der Victorin-Studios, in dem wir saßen, war zum Glück klimatisiert.
Während ich mir alle rushes ansah, machte ich mir schon Notizen, denn sehr bald hatte ich eine Idee gehabt. Eine gute Idee. Das war immer so. Deshalb hatte ich meinen seltsamen Beruf. Was Torrini da an Irrsinn heruntergekurbelt hatte - auch noch mit sehr vielen Statisten und in sündteuren Dekoratio nen -, war schon ein starkes Stück. Arme Lillian Lang! Ich hätte als Cutter auch einen Nervenzu sammenbruch bekommen.
Nachdem die letzten rushes gelaufen waren und es hell im Vorführraum wurde, fragte Gamma mit sehr kleiner Stimme: »Glauben Sie, Sie können das in Ordnung bringen?«
»Ja«, sagte ich. »Ich habe genau aufgepaßt. Zum Glück ist bei den vielen two-shots, die Torrini so liebt, sehr oft einer der beiden Darsteller nur mit dem Hinterkopf zu sehen. Ich kann ihm also nach
Belieben neue Dialoge in den Mund legen. Den Partner, den man von vorne sieht, kann man nach synchronisieren. Und oft sind die Schauspieler so weit weg von der Kamera, daß man sie jeden neuen Dialog sprechen lassen darf, ohne daß es auffällt.« »Ja, ja, ja. Und wie schaut die Geschichte aus, die ausgeputzte Geschichte? Wissen Sie das auch schon?«
»Weiß ich auch schon. Noch nicht genau natürlich. Nur in Umrissen.«
Ich erzählte ihm meine Idee.
Danach begann er zu weinen. Er stand auf, packte mich an den Ohren und gab mir sehr feuchte Küsse auf die Wangen, die Stirn und den Mund. Ich wischte mir den Mund ab und sagte ihm, was dieses Stück Arbeit kosten würde.
Er setzte sich wieder und bewegte sinnlos die Füße hin und her.
»Sie haben mich in der Hand«, sagte er. »Sie ha ben mich in der Hand, und Sie wissen es.« »Die Hälfte gleich, die Hälfte, wenn ich fertig bin.« »Wann werden Sie fertig sein, Roger? Jeder Tag, den wir stehen, kostet mich ...«
»Fünf Tage. Von morgen an. Heute bin ich zu mü de. Und ich muß mir alles auch noch einmal genau überlegen.«
»Also gut, fünf Tage. Ab morgen.« Er stand auf und wollte zum Ausgang.
»Sie haben etwas vergessen«, sagte ich. »Was habe ich vergessen?«
»Den Scheck mit der ersten Rate.«
Er verfluchte mich, während er sich hinsetzte und einen Scheck ausschrieb. Ich verdiente hier endlich wieder einmal einen Haufen Geld. Das war ein Schluck aus der Pulle.
»Da«, sagte er.
»Danke, Serge«, sagte ich und steckte den Scheck in die kleine Ledertasche, die ich bei mir trug. Alle Männer hier unten im Süden besaßen sol che Taschen. Ich hatte mich im Hotel noch einmal umgezogen: Leinenhose, darüber ein Hemd, Slipper. Den ganzen Tag verfolgte mich ein Gedan ke, auch während der Stunden, in denen ich die rushes sah. Ich sagte: »Hören Sie, Serge, fahren Sie allein zurück nach Cannes! Ich komme nach.« »Was wollen Sie denn tun? Haben Sie eine Freun din hier?«
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte noch ein bißchen mehr herausbekommen über die Geschichte.« Aber ich meinte nicht den Torrini-Film, dieses Meister werk. Ich meinte eine andere Geschichte. »Ich muß jetzt allein sein. Das MAJESTIC ist voller Filmleute. Ich kann sie nicht sehen. Lassen Sie mich allein, Serge! Ich werde mit einem Taxi zurückkommen. In zwei, drei Stunden. Okay?«
»Okay.« Während wir die Vorführung verließen, sagte er noch: »Wenn ich etwas Anständiges ge lernt hätte, wäre ich nicht in diesem Hurengewerbe gelandet.«
Sein Cadillac parkte auf dem Gelände. Ich half ihm beim Einsteigen und winkte dem Wagen nach, als er losfuhr. Dann ging ich auf die Straße hinaus zum nächsten Taxistand. Die Fahrer standen beisam men und unterhielten sich.
»Wer ist der erste?« fragte ich.
»Ich.« Ein hagerer, sonnenverbrannter Mann trat vor. Sein Gesicht war gegerbt und zerfurcht wie das Gesicht eines Fischers vom Meerwasser. »Nach Saint-Paul-de-Vence«, sagte ich. »Dort müssen Sie auf mich warten. Eine Stunde, höchstens zwei. Viel leicht auch nur eine halbe. Dann fahren wir nach Cannes. Wollen Sie warten?«
»Solange Sie wünschen«, sagte der Chauffeur. »Es ist Ihr Geld, Monsieur.«
Alles war genau so, wie Mrs. Collins es geschildert hatte.
Da gab es die Olivenhaine, die vielen Palmen, die erhaltene Stadtmauer. Da war die alte Kirche, da war der Platz mit dem großen Olivenbaum. Männer mit Baskenmützen spielten boule im roten Sand. Da war die für Autos zu schmale Straße mit ihren ural ten Häusern, da waren die aus unebenen, großen Steinen erbauten, schiefen und krummen Außen mauern.
»Hier kann ich nicht rein«, sagte mein Chauffeur. »Ich weiß. Bleiben Sie stehen! Und wie gesagt, es kann eine Weile dauern. Soll ich bezahlen, was es bisher kostet?«
»Nicht nötig«, sagte er. »Sie sehen nicht aus wie ein Schweinehund.«
Ich ging die Straße mit dem Katzenkopfpflaster hin auf und rutschte immer wieder aus. Es war schwie rig, nicht hinzufallen. Am besten ging man hier wirklich bloßfüßig.
Dann stand ich vor dem Haus, das Mrs. Collins mir so anschaulich beschrieben hatte. Es dämmerte bereits stark. Das Haustor war offen. Ich trat ein und befand mich in der riesigen, weißgetünchten Halle. Steinstatuen von Männern und Frauen, denen Ar me, Beine und ein Kopf fehlten, standen da. Hier war die überbreite Treppe, welche entlang der Mauern zu verschiedenen Absätzen führte, von welchen aus sich Türen öffneten. Alles war noch genau so, wie Mrs. Collins es vor elf Jahren zum letztenmal gesehen hatte.
Ich stieg die grauen, ausgetretenen Stufen empor, während ich laut »Hallo!« rief. Auf dem dritten Ab satz öffnete sich eine Tür. Eine Frau in schwarzem Kittel und mit nackten Füßen trat heraus. Sie sah sehr häßlich aus. Ihr Alter ließ sich nicht schätzen. Das schwarze Haar hing in die Stirn, die Füße wa ren schmutzig. Ich dachte an Mrs. Collins, die ge sagt hatte, es sei etwas Tragisches an dieser Frau gewesen und man habe gleich erkannt, daß sie einmal sehr schön gewesen sein mußte. Wann? Mrs. Collins hatte sie vor elf Jahren gesehen ... »Guten Abend, Madame«, sagte ich. Das also war Maria, die Haushälterin.
»Guten Abend, Monsieur. Sie wünschen?« »Mein Name ist Royan, Roger Royan. Ich weiß, ich hätte mich anmelden müssen – aber ist es wohl möglich, daß ich Monsieur Mondragon spreche?« Sie öffnete die Tür weiter, ohne zu antworten, und ging. Ich folgte ihr. Da war der Raum mit den anti ken Möbeln und den vielen Elefanten aus allen möglichen Materialien. Da war der Raum mit der Puppensammlung. Die Haushälterin Maria ging vor mir her über den uralten Steinboden, und auch hier war alles genau so wie zur Zeit von Mrs. Collins, die jetzt wahrscheinlich in einem Eisfach der Morgue von Saint-Raphaël lag, wenn man sie noch nicht aufgeschnitten und wieder zugenäht und in einen Zinnsarg gelegt hatte. Da war der Raum mit dem Kamin und den vielen Hähnen.
Die Haushälterin drehte das Licht einer Stehlampe an.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Monsieur«, sagte sie. »Danke, Madame.« Ich ließ mich in ein Fauteuil fallen. Zu meinem Erstaunen setzte sie sich in ein anderes Fauteuil, dem meinen gegenüber. »Ja, also bitte?« sagte sie.
»Entschuldigen Sie, Madame, aber ich möchte mit Monsieur Mondragon sprechen ... Ich habe Ihnen das doch gesagt, nicht wahr ...« Ich kam ins Stot tern. »Haben Sie mich nicht verstanden?« »Ich habe Sie sehr gut verstanden, Monsieur Roy an«, sagte die Frau in Schwarz. »Sie können Mon sieur Mondragon leider nicht sprechen.« »Wieso? Ist er nicht da?«
»Nein«, sagte die Frau in Schwarz. »Er ist nicht da.«