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»Darf ich auf ihn warten?«

»Ich fürchte, das wäre sinnlos, Monsieur Royan.«

»Wieso sinnlos? Macht er etwa eine große Reise?« »Vielleicht könnte man das so formulieren«, sagte sie.

Ich wurde nervös. »Aber irgendwann muß er doch wieder nach Hause kommen, Madame! Schreibt er Ihnen denn nicht? Stehen Sie nicht in Verbindung mit ihm?«

»Nicht mehr, Monsieur Royan«, sagte die Frau in Schwarz und bewegte die schmutzigen nackten Füße. »Er wird auch nie wieder nach Hause kom­ men.«

»Das verstehe ich nicht ... Wie können Sie so etwas sagen, Madame?«

Statt zu antworten, stellte sie eine Gegenfrage. »Wer sind Sie, Monsieur Royan? Ich meine, was für einen Beruf haben Sie?«

»Schriftsteller.«

»Sie schreiben Geschichten?«

»Ja, Madame.«

»Auch wahre Geschichten?«

»Auch wahre Geschichten, ja. Wenn es sich er­ gibt.«

»Ich verstehe.«

Sie sah mich ernst an.

»Madame, wo ist Monsieur Mondragon?« »Auf dem Friedhof«, sagte sie still. »Auf dem Fried­ hof von Saint-Paul-de-Vence.«

Ich schluckte.

»Er starb vor zwei Jahren«, sagte sie. »Im März

1981. Lungenkrebs. Er war zuvor lange in einer Kli­ nik in Nizza. Ich habe ihn dann hierher bringen und auf dem Friedhof beisetzen lassen.«

»Aber das ist doch unmöglich ...« Nun war ich sehr verwirrt.

»Wieso ist das unmöglich?«

»Mrs. Collins ... eine amerikanische Dame ... Sie hat vor zwei Monaten noch einen Brief von ihm be­ kommen!« rief ich.

»Nun, das ist trotzdem durchaus möglich«, sagte die Frau in Schwarz.

»Ich bitte Sie! Ein Toter kann doch keine Briefe schreiben!«

»Natürlich nicht. Er hat aber andere Möglichkeiten. Manchmal.«

Ich stand auf und fragte: »Wer sind Sie?« Sie antwortete ruhig: »Ich bin seine Frau, Monsieur Royan. Ich war siebenunddreißig Jahre mit ihm ver­ heiratet. Ich werde immer seine Frau bleiben, auch wenn er tot ist.«

Ich setzte mich wieder.

Draußen war es ganz dunkel geworden. Sie sagte: »Sie sind erstaunt. Viele Menschen, die meinen Mann kannten, wären erstaunt zu hören, daß er so lange mit mir verheiratet gewesen ist. Nur die Leute hier im Ort wissen es. Aber sie sprechen nicht darüber mit Fremden. Das haben sie nie ge­ tan. Sie wollten uns keine Schwierigkeiten berei­ ten.«

»Schwierigkeiten?«

»Oder das Geschäft stören.« Sie lächelte, und ich sah ihre schadhaften Zähne. »Ich bin einmal sehr schön gewesen, Monsieur. Sie werden das nicht glauben.«

»O doch, gewiß ...«

»Sie sind höflich. Aber Sie glauben es nicht. Und doch ist es so. Ein schönes junges Mädchen war ich, als ich Pierre heiratete, gerade achtzehn Jahre alt geworden. Die Leute im Dorf wissen es alle. Und in Nizza weiß es Monsieur Reuben Alassian.« »Reuben Alassian?«

»Dieser Juwelier.«

»Der lebt noch?«

»Gewiß. Er ist weit über achtzig, aber immer noch sehr rüstig. Kennen Sie Monsieur Alassian?« »Mrs. Collins erzählte mir von diesem armenischen Herrn.«

»Ich verstehe. Monsieur Alassian hat Pierre das Angebot gemacht. Das ist auch schon wieder zwei­ undzwanzig Jahre her ...«

»Angebot? Was für ein Angebot?«

»Gleich, Monsieur Royan, gleich! Zuerst möchte ich doch wissen, warum Sie hergekommen sind und warum Sie meinen Mann sprechen wollten. Sie erwähnten den Namen einer Dame ...« »Mrs. Collins.«

»Ach ja. Collins.« Wieder lächelte sie.

»Sie erinnern sich an sie?«

»Natürlich. Ich habe ein ausgezeichnetes Ge­ dächtnis. Ich erinnere mich an alle Damen, die hier­ hergekommen sind. Besonders gut erinnere ich mich an Mrs. Collins. Mein Mann hat ihr doch erst vor zwei Monaten einen Brief geschrieben, nicht wahr? Das heißt, zur Post gebracht habe ich ihn natürlich. Ein Toter kann keine Briefe mehr zur Post bringen. Woher kennen Sie Mrs. Collins, Monsieur Royan? Leben Sie in New York?«

»Nein, in Paris.«

»Und wo haben Sie Mrs. Collins kennengelernt?« »Im Train bleu«, sagte ich. »Heute nacht.« Sie hob den Kopf. »Mrs. Collins war im Train bleu?« »Das sage ich doch, Madame ... Madame Mondragon.«

»Aber was tat sie da? Wieso war sie im ›Blauen Zug‹?«

»Sie wollte hierherkommen und für immer mit Ihrem Mann zusammenleben«, sagte ich.

Danach erzählte ich von meinem nächtlichen Ge­ spräch. Madame Mondragon hörte mit aus­ druckslosem Gesicht zu. Als ich geendet hatte, öffnete ich die kleine Ledertasche und nahm die Karte mit dem Bildchen und der Schrift Pierre Mon­ dragons heraus - gleichsam als Beweis dafür, daß ich die Wahrheit erzählt hatte.

»Ach«, sagte Maria Mondragon, »eines seiner Mandelbäumchen!« Sie nahm mir die Karte ab und drehte sie um. »Und Annabel Lee, die schöne An­ nabel Lee.«

»Was meinen Sie mit: eines seiner Mandelbäum­ chen?« fragte ich. »Wie viele hat er denn gemalt?« Die Frau im schwarzen Kittel stand auf und ging zu einem Schrank, den sie öffnete. Farbtiegel und viele Fläschchen standen da auf Regalbrettern. Links erblickte ich in zwei Stapeln Karten von der Größe jener, die ich bei mir trug. Sie waren ordentlich ge­ schichtet, eine über die andere, und es waren ge­ wiß mehr als zweihundert.

»Da«, sagte die Frau in Schwarz, »sehen Sie, wie viele Mandelbäumchen Pierre gemalt hat!« Sie lachte und hustete. »Viele«, sagte sie, »so viele.« Sie lachte wieder. »Verschiedene Mandelbäum­ chen. Fünf Typen, Monsieur Royan. Es gibt da Schablonen. Man legt sie auf eine Karte und über­ streicht sie mit Farbe ... Eine Schablone für die Äste ... eine für die Blätter ... eine für die Blüten ... Er konnte doch nicht malen, mein armer Pierre ... Da sah er einmal in Nizza so ein Mandelbäumchen, gemalt mit diesen Schablonen. In einem Geschäft für Kinderspielzeug war das. Jedes Kind kann mit diesen Schablonen schöne Mandelbäumchen ma­ len. Ich war an jenem Tag dabei und hatte die Idee ...«

»Welche Idee?«

»Nun, er hatte doch schon das Angebot von Monsi­ eur Alassian angenommen, und da sagte ich ihm, daß mir ein großartiger Einfall gekommen sei mit diesen Mandelbäumchen ... Sie sind wirklich be­

zaubernd, jeder muß sie gern haben... Ich weiß noch, wie wir zusammen Schablonen und Wasser­ farben kauften ...« Sie stockte in ihrer Anwandlung von Heiterkeit und fragte ernst: »Wenn Mrs. Collins nichts vom Tod meines Mannes wußte und mit ihm leben wollte, warum ist sie dann nicht hier?« »Das habe ich Ihnen noch nicht erzählt, Madame. Mrs. Collins starb heute nacht im Train bleu, wäh­ rend sie schlief. Herzversagen. Oder Herzinfarkt. Sie haben den Leichnam in Saint-Raphaël aus dem Zug geholt.«

Madame Mondragon nickte bedächtig. »Es scheint ihn also doch zu geben.«

»Wen?«

»Gott«, sagte sie. »Er hat der armen Mrs. Collins großen Kummer erspart und sie glücklich sein las­ sen bis zu ihrem Tod.« Sie schloß den Schrank und setzte sich wieder. »Natürlich liebte sie meinen Mann. Alle diese Damen liebten meinen Mann. Es ist wahr, er konnte nicht malen. Er war dumm, wis­ sen Sie, Monsieur Royan, schrecklich dumm. Er konnte eigentlich überhaupt nichts. Nur eines: Er konnte eine Frau glücklich machen. Das beein­ druckte den Juwelier Alassian außerordentlich, als er einmal durch Zufall erfuhr, wie glücklich ich war. Monsieur Alassian ist ein sehr kluger Mann. Weil er sehr klug ist, machte er meinem Mann dieses An­ gebot.«

»Welches Angebot, verflucht? Ich bitte um Ver­ zeihung. «

Madame Mondragon deutete durch eine Handbe­ wegung an, daß sie mir verzieh. »Ganz einfach. ›Sie sind ein Frauentyp‹, sagte Monsieur Alassian zu Pierre. ›Die Frauen fliegen auf Sie. Ich kaufe Ih­ nen einen Smoking, meinetwegen zwei, dazu Schuhe, Socken und Hemden, was Sie brauchen, um sich für eine Gala anzuziehen. Ich kenne sehr viele Menschen hier an der Côte, ich bin oft zu ihren Galas eingeladen. Ich werde dafür sorgen, daß auch Sie zu vielen Galas eingeladen werden - zu solchen mit sehr reichen Leuten!‹«

»Sie wollen sagen ...«

»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Monsieur Roy­ an! Ich erzähle Ihnen doch ohnedies alles. ›Ich‹, sagte Monsieur Alassian, ›werde Ihre Auf­ merksamkeit dann immer auf eine bestimmte Dame lenken. Sie machen ihr den Hof. Sie werden mit ihr flirten, mit ihr tanzen, ihr sagen, wie hinreißend sie ist, daß Sie sich in sie verliebt haben, ein coup de foudre, nicht wahr, und so weiter und so weiter. Sie wissen, wie man das macht. Sie verabreden sich mit der Dame. Es wird eine verheiratete Dame sein. Sie schlafen mit ihr. Sie machen sie glücklich. Sie tun alles das, was Ihre kleine Frau so an Ihnen schätzt. Dann schauen Sie sich mit der verheirate­ ten Dame oder ihrem Ehemann den Schmuck in meinem Geschäft an. Sie als Maler werden immer wissen, was zu der Dame am besten passen würde ...‹ Muß ich noch weitersprechen, Monsieur Roy­ an?«