Mrs. Collins küßte ihren Mann auf die Wange. »Al les, wie du willst, Schatz. Natürlich sollst du dich nicht langweilen, und du sollst nur tun, was du willst. Ich möchte so gerne die Bilder und Kunstwerke und Kirchen und Museen sehen ... Und wenn Monsieur Mondragon Zeit hat ...«
»Pierre auch für Sie, bitte!«
»... und wenn Pierre Zeit hat, dann halten wir es so, wie du es vorgeschlagen hast, Erskine, darling.« Mrs. Collins holte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche. Die Finger berührten dabei das kleine Bild des Mandelbäumchens.
Sie hielten es wirklich so, und sie waren sehr glück lich.
Mr. Collins schlief drei, manchmal vier Stunden nach dem Essen und ging dann sein Spielchen ma chen, und Mondragon fuhr in seinem alten, verbeul ten Wagen mit Mrs. Collins tatsächlich nach Vallauris und Antibes und zu anderen Se henswürdigkeiten, immer aber bald nach Saint-Paul-de-Vence. Hier liebten sie einander auf dem breiten Bett in Mondragons kühlem Schlafzimmer. Oft war Maria, die Haushälterin, nicht da, und sie blieben ganz allein. Manchmal sah Mrs. Collins die ernste, stets in Schwarz gekleidete Frau, die so häßlich und so traurig wirkte. Sie wirkte nur so, hat te Pierre gesagt, sie sei es nicht, sie sei nur unge mein dumm.
Wenn sie später Mr. Collins zum Abendessen im PALM BEACH trafen, waren die drei Menschen stets bester Laune. Sie scherzten und lachten, und Mr. Collins bedankte sich wieder und wieder dafür, daß Mondragon sich so rührend um Mrs. Collins küm merte. Mr. Collins gewann übrigens ständig. »Wenn ich lange genug hierbleiben könnte, wür de ich bei den Brüdern alles herausholen, was mich der Schmuck von Alassian gekostet hat«, sagte Mr. Collins einmal. Da war er ziemlich betrunken, und die beiden anderen lächelten über seine harmlose Taktlosigkeit.
Der Zug raste durch die Nacht.
Mrs. Collins trank ihr Glas leer und hielt es mir hin. Ich füllte es wieder. Unglaublich, was diese Frau vertrug, dachte ich. Die zweite Flasche war fast leer, und ich hatte wenig davon getrunken. Es war
fast Mitternacht.
»Die Zeit verging rasend schnell«, sagte Mrs. Col lins. »Die vier Wochen waren um. Mein Mann muß te nach New York zurück. Ein letztes Mal war ich mit Pierre zusammen. Wir saßen in dem Zimmer mit dem Kamin und den vielen Hähnen, hielten uns an den Händen und nahmen Abschied voneinander. Pierre sagte, daß er mich niemals vergessen würde. Ich dachte mit Schrecken an ein Leben ohne ihn. ›Du mußt wiederkommen, Annabel Lee‹, sagte Pi erre, ›bitte, komm wieder! Jedes Jahr. Jedes Jahr zweimal. Bitte! Und schreibe mir! Darf ich dir auch schreiben?‹ Ich gab ihm die Adresse einer Freun din, auf die ich mich stets verlassen konnte.« Jetzt sprach Mrs. Collins sehr ernst: »Nur wenig Zeit blieb uns, so wenig Zeit. Wir saßen da und sa hen einander an, und dann mußten wir ins PALM BEACH zu meinem Mann, und wir mußten fröhlich und guter Dinge sein, damit er keinen Verdacht schöpfte. Pierre hatte mit mir verabredet, daß er zuerst heimfahren würde; es war leichter für uns beide. Zum Abschied küßte er mich auf beide Wan gen, dann ging er schnell aus dem Saal. Er sah sich nicht mehr um.«
Sie schwieg und blickte die Wand vor sich an. Nach einer langen Pause sagte sie: »Wir flogen am näch sten Tag über Paris nach New York zurück. Mein Mann war begeistert von der Idee, alljährlich an die Côte d'Azur zu reisen. Es hatte ihm dort so gut ge fallen - doch wir kamen niemals wieder.« »Warum nicht?« fragte ich leise.
»Unmittelbar nach der Heimkehr traten bei mei nem Mann Schwierigkeiten beim Gehen auf. Zuerst hinkte er mit dem rechten Bein, dann kamen die Schmerzen. Er suchte einen Arzt auf. Er suchte ein halbes Dutzend Ärzte auf. Endlich stand fest, was er hatte.«
»Was hatte er?«
»Amyotrophische Lateralsklerose«, sagte Mrs. Col lins. »Dasselbe, was Onassis hatte. Muskel schwund. Eine besonders bösartige und unheilbare Form davon.« Sie trank das Glas leer und hielt es mir hin. Ich füllte es wieder.
»Ein Muskel nach dem anderen stirbt ab«, sagte Mrs. Collins. »Es gibt Pausen bei dieser fort schreitenden Erkrankung, aber sie werden immer kürzer. Die Krankheit kann sehr lange dauern, bis sie zum Tode führt. Bei Erskine hat sie elf Jahre gedauert.« Wieder schwieg Mrs. Collins lange. Dann sagte sie: »Während der ersten Jahre konnte mein Mann noch arbeiten, nur gehen konnte er schon bald nicht mehr. Er mußte in den Rollstuhl. Wir hatten natürlich Pfleger und Pflegerinnen und die besten Spezialisten. Und Erskine war sehr tap fer. Und gütig. Und selbstlos. Ein paarmal forderte er mich auf, ohne ihn an die Côte d'Azur zu fliegen, aber das lehnte ich ab. Das konnte ich einfach nicht tun.«
»Und Mondragon?«
Sie mußte mit ihren Gedanken weit weg gewesen sein, denn sie sah mich erstaunt an.
»Wie bitte?«
»Der Maler«, sagte ich. »Pierre Mondragon. Wußte er, warum Sie nicht mehr zu ihm kamen?« »Oh, Pierre. Natürlich wußte er es. Er schrieb mir von Anbeginn. Als wir in New York ankamen, traf gleichzeitig sein erster Brief bei meiner Freundin ein. In ihm steckte eine Karte, auf die hatte er wie der ein Mandelbäumchen gemalt. Dazu gab es ei nen langen Liebesbrief - einen ganz wunderbaren, den ersten von vielen. Er hätte nicht Maler, er hätte Schriftsteller werden sollen«, sagte Mrs. Collins. »Wir korrespondierten regelmäßig, aber in großen Abständen, denn natürlich nahm mich die Erkran kung meines Mannes sehr in Anspruch - auch see lisch. Pierre verstand das, als ich ihm den Grund für meine langen Schreibpausen nannte.« Wieder trank Mrs. Collins. »Die Zeit verging ... Monate ... Jahre ... Der Zustand Erskines wurde schlechter und schlechter. Nun waren die Briefe, die ich mit Pierre wechselte, mein einziger Trost. Einmal im Jahr schickte er mir ein neues Mandelbaumbildchen ... jedes Jahr eines ... Ich war so verzweifelt, daß es eine Weile dauerte, bis ich bemerkte, wie Pierre sich bemühte, seine eigene Verzweiflung zu ver bergen.«
»Warum war er verzweifelt?«
»Das fragte ich ihn in einem Brief. Ist noch Cham pagner da?«
»Ein wenig.« Ich goß ihr Glas voll.
»Danke, Monsieur Royan. Pierre war verzweifelt -ich bekam es nur mit Mühe aus ihm heraus -, weil niemand seine Bilder mochte. Er malte und malte, und niemand kaufte. Er hatte Schulden. Er verlor einen Prozeß und hatte noch größere Schulden ... Damals schickte ich ihm den ersten Scheck.« »Sie haben ihm Geld geschickt?«
»Warum nicht? Er war der Mann, den ich liebte. Der Mann, der mich liebte. Er nahm den Scheck nicht an, er sandte ihn zurück. Ich schrieb einen neuen aus und schickte ihn ab. Diesmal nahm er an. Seit dem nahm er stets Geld von mir an, wenn er sehr in Not war ...«
»War er oft in Not?« fragte ich.
»Er war vom Unglück verfolgt. Immer wieder pas sierte etwas ganz Schlimmes. Es ging ihm immer schlechter ... so wie dem armen Erskine, der inzwi schen kaum noch die Augenlider bewegen konnte.« »Mrs. Collins, wieviel Geld haben Sie Mondragon geschickt?«
»Oh, ein paar tausend Dollar, fünf-, sechs-, sie bentausend, ich weiß es nicht. In elf Jahren, be denken Sie! Die letzten vier Jahre war Erskine in einer Spezialklinik, er konnte nicht mehr zu Hause gepflegt werden. Ich saß täglich bei ihm, stunden lang - bis zu seinem Tod.«
»Wann ist er gestorben?«
»Voriges Jahr am vierzehnten November. Vor ei nem halben Jahr. Ich werde Ihnen nicht erzählen, wie das Ende war.« Sie zog die Glanzstoffblende herab und schwieg. »Ich mußte in ein Sanatorium«, sagte sie dann. Mit einer eigenwilligen Bewegung warf sie den Kopf zurück. »Aber jetzt bin ich unter wegs zu Pierre. Vor zwei Monaten hat er mir zum letztenmal geschrieben. Er weiß nicht, daß ich komme. Es soll eine Überraschung werden. Und Erskine ... Ich habe schon so vieles vergessen, was an Schrecklichem geschah. Bei Pierre werde ich alles vergessen. Ich sagte Ihnen ja, ich habe ein neues Leben begonnen.«