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»Und ich habe Ihnen Glück dazu gewünscht«, sagte ich, »und ich tue es noch einmal.«

»Danke, Monsieur Royan.« Sie gab mir ernst die Hand. Dann lächelte sie wieder. »Ich habe ein Zimmer im CARLTON reservieren lassen. Von dort werde ich Pierre anrufen und ihm sagen, daß ich zurückgekommen bin - für immer.«

»Sie wollen New York für immer verlassen?« »Ja. Die Bank wird von Männern weitergeführt, die mein absolutes Vertrauen haben. Unsere große Wohnung habe ich schon aufgelöst, als Erskine ins Krankenhaus kam. Ich besitze nur noch ein kleines Penthouse. Ich denke, ich werde in Saint-Paul-de-Vence bleiben ... oder wo immer Pierre zu bleiben wünscht. Er machte doch so viele Reisen ... Ich werde ihn begleiten ...« Sie gähnte.

Ich stand auf und klingelte.

Der kahlköpfige Schaffner erschien sofort. »Bitte, räumen Sie die Flasche und die Gläser fort«, sagte ich und trat auf den Gang, um ihm Platz zu lassen. Er kam mit dem Tablett wieder aus Mrs. Collins' Abteil. »Was macht das?« fragte ich leise. Er nannte eine Summe. Ich drückte ihm einige Scheine in die Hand. Es war mehr, als der Cham­ pagner kostete, und er bedankte sich.

Mrs. Collins saß auf dem Bett und sah wieder die Wand vor sich an. Sie war jetzt ganz abwesend. Aber das Lächeln stand immer noch auf ihrem Ge­ sicht.

Ich trat neben sie.

»Gute Nacht, Mrs. Collins. Schlafen Sie gut in Ihr neues Leben hinein.«

»O ja«, sagte sie. »Das will ich tun. Denken Sie doch: Ein paar Stunden nur - und ich bin bei ihm.« Den Schlafwagenkorridor füllten nun Menschen, die aus ihren Abteilen getreten waren - die meisten noch nicht richtig angezogen. Sie alle sahen dem Schlosser zu, der den Sicherheitsbolzen an der ei­ nen Spaltbreit geöffneten Tür des Abteils von Mrs. Collins durchsägte. Der Schlosser war dick und trug einen blauen Monteuranzug. Er kniete vor der Tür. Neben ihm stand ein junger Arzt im weißen Kittel, und hinter diesem warteten zwei Feuerwehrleute. Es hatte eine Viertelstunde gedauert, bis alle ge­ kommen waren.

Niemand sprach. Nur das widerlich schrille Krei­ schen der Säge, die durch das Eisen des Tür­ bolzens drang, war zu hören. Ein paar Frauen trugen Morgenmäntel, die Männer Pyjamas oder Hosen und Unterhemden. Der junge Arzt hielt eine große schwarze Tasche. Zwischen den Feuerwehr­ leuten stand ein rotes Beatmungsgerät auf dem Teppich des Korridors. Es war nun heiß geworden in dem schmalen Gang.

Klack.

Der Schlosser hatte den Riegel durchgesägt. Er öffnete die Tür weit. Die Passagiere drängten neu­ gierig vor.

»Gehen Sie zurück!« rief Emile, der kahlköpfige Schaffner. »Gehen Sie bitte zurück, meine Damen und Herren! Wir brauchen hier Platz. Bitte, gehen Sie zurück!« Er bat vergebens. Die Menschen drängten noch näher.

Der Arzt verschwand in dem dunklen Abteil. Einige Minuten war er nicht zu sehen. Wieder war es ganz still. Dann sagte der Arzt etwas, das ich nicht verstand. Die Feuerwehrleute hoben das Beat­ mungsgerät mit der Maske für Mund und Nase hoch und verschwanden gleichfalls in dem Abteil. Etwas später kam einer der beiden pompiers zurück und bahnte sich hastig einen Weg durch die Menschen. Ich sah ihn über den Bahnsteig laufen.

Der junge Arzt trat aus dem Abteil.

Ich fragte: »Ist sie ...«

»Ja«, sagte der junge Arzt. Er sah sehr gut aus, ein dunkler, südländischer Typ mit schwarzem Haar und schwarzen Augen.

»Merde«, sagte der Schaffner.

»Herzversagen oder Infarkt«, sagte der junge Arzt. »Im Schlaf.«

»Aber sie war doch so fröhlich und hoffnungsvoll«, sagte ich idiotisch.

»Jeder Mensch kann jederzeit einen Infarkt be­ kommen und tot umfallen. Sie waren mit der Dame noch zusammen?«

»Lange«, sagte ich. »Sie erzählte mir eine Ge­ schichte aus ihrem Leben.«

»Wohin wollte sie?«

»Nach Cannes«, sagte der Schaffner.

»Wird sie in Cannes erwartet?« Der junge Arzt sah mich an.

»Nein«, sagte ich. »Sie wollte im CARLTON ab­ steigen. Nach elf Jahren kam sie zum erstenmal wieder an die Côte d'Azur.« Ich brach ab. Es wider­ strebte mir, dem Arzt Mrs. Collins' Geschichte zu erzählen. Er wollte sie auch gar nicht hören. Kühl sagte er: »Sie muß hier aus dem Zug. Eine Autop­ sie wird nötig sein. Hat sie von Verwandten gespro­ chen?«

»Sie sprach von ihrem Mann. Der ist vor einem hal­ ben Jahr gestorben. Andere Verwandte erwähnte sie nicht. Ich glaube, sie hat keine.«

»Wir haben ihren Paß in der Handtasche gefun­ den«, sagte der Arzt. »Und wohin fahren Sie?« »Auch nach Cannes. Ich habe da zu arbeiten. Ich werde im MAJESTIC wohnen.«

»Es kann sein, daß es noch Fragen gibt. Die Polizei wird dann versuchen, sie mit Ihrer Hilfe zu klären, Monsieur ...«

»Royan.« Ich gab ihm eine Visitenkarte. »Danke.« Er steckte sie in die Brusttasche seines Kittels. »Seien Sie nicht ungehalten. Die Tote ist Ausländerin, und wir haben unsere Vorschriften und Gesetze.«

»Natürlich«, sagte ich, »Vorschriften und Gesetze.« Der Feuerwehrmann, der fortgelaufen war, drängte sich durch die vielen Menschen zu uns durch. Er trug eine gefaltete Wolldecke von häßlicher grauer Farbe und verschwand in Mrs. Collins' Abteil. Sein Kollege kam mit dem Beatmungsgerät heraus. Er trug auch Mrs. Collins' großen schwarzen Koffer und stieß sich brutal seinen Weg den Gang entlang frei. Ich sah, wie er Koffer und Gerät auf den Bahn­ steig stellte. Dann kehrte er schwitzend zurück und trat wieder in das Abteil.

Etwa drei Minuten später kamen die beiden Männer heraus. Gemeinsam trugen sie die tote Mrs. Collins, in die große graue Decke gerollt. Man sah nichts von ihrem Körper. Es erstaunte mich, wie klein Mrs. Collins im Tode war. Die Deckenrolle schien so kurz. Und sie war doch eine große Frau gewesen. Nun wichen alle Menschen in ihre Abteile zurück. Die Feuerwehrleute eilten mit der Leiche schnell und geschickt den Gang entlang, der eine hielt das Kopfende, der andere das Fußende von Mrs. Col­ lins. Die Menschen kamen wieder auf den Gang. Wir sahen, daß ein dritter Feuerwehrmann eine Bahre mit kleinen Rädern aus dem Stationsgebäu­ de herausrollte und neben dem Koffer auf dem Bahnsteig abstellte. Seine Kollegen erschienen mit der in der Wolldecke verborgenen Toten. Sie legten das Bündel auf die Bahre. Der Arzt ging, ohne ein Wort zu sagen. Gleich darauf erschien er bei den Männern auf dem Bahnsteig. Zwei von ihnen zün­ deten sich Zigaretten an. Einer spuckte auf den Bo­ den und verrieb den Speichel mit seinem Stiefel. Sie warteten wahrscheinlich auf eine Ambulanz. Eine Lautsprecherstimme gab bekannt, daß unser Zug sofort abfahren würde.

Ich trat vor und sah in das Abteil, in dem Mrs. Col­ lins gestorben war. Sie hatten die Blende vor dem Fenster natürlich hochgezogen, und das Abteil war von grellem Sonnenlicht erfüllt. Es roch nach Par­

füm und Zigarettenrauch, aber nur schwach. Die Feuerwehrleute hatten Mrs. Collins' Kleider, Schuhe und Mantel offenbar in den großen Koffer gepackt, denn ich sah nur das leere, zerwühlte Bett. Dann fiel mein Blick auf die Mahagoniplatte des Waschti­ sches. Ich nahm das kleine Bild, das noch dort lag, und steckte es ein. Sie hatten es wohl übersehen. Der Zug ruckte und fuhr an. Ich trat auf den Gang und sah aus dem Fenster. Die Männer standen noch immer um die Bahre, auf der, in die häßliche Wolldecke verpackt, Mrs. Collins lag, und warteten. Jetzt rauchten alle. Noch einen Augenblick lang sah ich sie, dann hatte der Zug die Station verlassen. Er nahm Fahrt auf. Der Gang war leer. Auch ich ging in mein Abteil und sank auf das Bett. Ich fühlte mich plötzlich sehr müde. Mrs. Roberta Collins war tot. Ich wusch mich und zog leichtere Kleidung an, denn es war inzwischen gräßlich heiß geworden. Der Zug fuhr nun sehr schnell. Wir hatten mehr als eine Stunde Verspätung. Ich nahm das kleine Bild aus der Jackentasche und packte meinen schweren Anzug und die Waschsachen in den Koffer. Dann setzte ich mich wieder und sah das Mandelbäum­ chen an, und ich las, was Pierre Mondragon auf die Rückseite geschrieben hatte. Das also war das En­ de der Geschichte, dachte ich. Ein dummes Ende. So aber war das Leben. War das Leben wirklich so? überlegte ich und betrachtete wieder das Man­ delbäumchen. War das wirklich das Ende der Ge­ schichte?