Es war vier Tage später, als er während der Arbeit am Blumenbeet des Gefängnisses mit seiner Hacke zu stolpern schien. Er hielt den Stiel des Werkzeuges mit beiden Händen quer vor sich hin. Als Leamas sein Gleichgewicht zurückerlangt hatte, hielt sich sein rechter Nebenmann mit schmerzverzerrtem Gesicht und zusammengekrümmtem Leib den Arm über die Magengrube. Danach gab es kein Rempeln mehr.
Die seltsamste von jenen Erfahrungen, die Leamas im Gefängnis machte, war seine Reaktion auf das braune Papierpaket, mit dem man ihn entließ. In lächerlicher Weise erinnerte es ihn an eine Hochzeitszeremonie: mit diesem Ring besiegle ich den Bund unserer Ehe, mit diesem Papierpaket besiegle ich deine Rückkehr in die Gemeinschaft. Als man ihm das Paket übergab, mußte er ein Formular unterschreiben. Es enthielt alles, was er auf dieser Welt besaß. Leamas empfand diesen Augenblick als den niederdrückendsten während der drei Monate, und er beschloß, das Paket wegzuwerfen, sobald er draußen war.
Er schien ein ruhiger Gefangener zu sein. Es gab keine Klagen über ihn. Der Direktor, der an seinem Fall entfernt interessiert war, schob alles dem irischen Blut zu, das er in Leamas entdeckt haben wollte.
»Was werden Sie tun«, fragte er, »wenn Sie uns hier verlassen?«
Leamas erwiderte ohne die geringste Spur eines Lächelns, dass er einen neuen Anfang machen wolle. Der Direktor meinte, dies sei ein ausgezeichneter Vorsatz.
»Wie steht's mit Ihrer Familie?« fragte er. »Könnten Sie sich mit Ihrer Frau nicht wieder versöhnen?«
»Ich werde es versuchen«, antwortete Leamas gleichgültig, »aber sie ist wieder verheiratet.«
Der Bewährungsbeamte hätte es gerne gesehen, wenn Leamas Pfleger in der Nervenheilanstalt von Buckinghamshire geworden wäre, und Leamas versprach, sich bewerben zu wollen. Er ließ sich sogar die Anschrift geben und notierte die Abfahrtszeiten der Züge nach Buckinghamshire.
»Die Strecke ist bis Great Missenden elektrifiziert«, sagte der Bewährungsbeamte, und Leamas erwiderte, das sei eine große Hilfe. Man gab ihm also das Paket, und er verließ das Gefängnis. Er fuhr mit dem Bus bis Marble Arch und ging dann zu Fuß. Er hatte etwas Geld in der Tasche und wollte sich eine gute Mahlzeit gönnen. Er hatte deshalb vor, durch den Hydepark zum Piccadilly und über den Parliament Square durch White Hall zum Strand hinunterzuwandern, wo er im großen Café am Charing-Cross-Bahnhof für sechs Shilling ein ordentliches Lendenstück bekommen konnte.
Es war ein sonniger Tag im späten Frühjahr, und in den Parkanlagen blühten Krokusse und Narzissen. Er hätte den ganzen Tag im kühlen, erfrischenden Südwind laufen können. Aber er trug noch immer das Paket, und er mußte es loswerden. Die Abfallkörbe waren zu klein für sein großes Paket. Der Versuch, es in einen von ihnen zu stopfen, wäre lächerlich gewesen. Außerdem wollte er noch ein paar Dinge herausnehmen: seine zerknitterten Papiere, wie die Versicherungskarten, den Führerschein und seinen E. 93 - was immer das war -, der in einem braunen Umschlag steckte, wie er von amtlichen Dienststellen verwendet wurde. Aber plötzlich wollte er sich nicht mehr damit abgeben. Er setzte sich auf eine Bank und legte das Paket neben sich. Dann schob er sich von dem Paket weg ans andere Ende der Bank. Nach ein paar Minuten stand er auf und ließ das Paket, wo es lag. Er hatte den Fußweg gerade erreicht, als er einen Ruf hörte. Er wandte sich um, vielleicht sogar ein wenig heftig, und sah einen Mann in einem Armeegummimantel, der ihm zuwinkte und in der anderen Hand das braune Papierpaket hielt.
Leamas hatte die Hände in den Taschen, und dort ließ er sie, während er über seine Schulter zu dem Mann im Gummimantel zurückschaute. Der Mann zögerte. Offenbar erwartete er, dass Leamas näher kommen oder zumindest Interesse zeigen würde. Statt dessen zuckte er nur mit den Achseln und ging weiter. Er kümmerte sich nicht um die weiteren Rufe des Mannes, von dem er wußte, dass er hinter ihm herkam. Er hörte seine eiligen Schritte auf dem Kies, die rasch näher kamen, und dann eine etwas atemlose und ziemlich gekränkte Stimme:
»Hallo, Sie - hören Sie doch!«
Der Mann hatte ihn fast erreicht, als Leamas stehenblieb und ihn ansah. »Ja?«
»Das ist doch Ihr Paket? Sie haben es auf der Bank liegenlassen. Warum sind Sie nicht stehengeblieben? Ich habe Sie doch gerufen!«
Der Mann war groß, mit ziemlich gekräuseltem braunem Haar. Er trug einen orangefarbenen Schlips und ein blaßgrünes Hemd. Er wirkte ein klein wenig verdrossen. Ein bißchen schwul, dachte Leamas, könnte Lehrer sein, vielleicht leitete er in einem Vorort den Theaterklub. Kurzsichtig.
»Sie können es zurücklegen«, entgegnete Leamas. »Ich will es nicht haben.«
Der Mann lief rot an: »Es ist Abfall. Sie können es doch nicht einfach dort liegenlassen«, sagte er.
»Das kann ich sehr wohl«, erwiderte Leamas. »Irgend jemand wird schon eine Verwendung dafür haben.« Er wollte weitergehen, aber der andere stand noch immer vor ihm, das Paket wie ein Baby auf beiden Armen haltend. »Gehen Sie aus dem Licht«, sagte Leamas, »wenn ich bitten darf.«
»Hören Sie«, sagte der Fremde, wobei sich seine Stimme um einen Ton hob. »Warum sind Sie so verdammt unhöflich? Ich wollte Ihnen doch nur einen Gefallen tun.«
»Wenn Sie so scharf drauf sind, mir einen Gefallen zu tun«, antwortete Leamas, »dann sagen Sie mir, weshalb Sie mir jetzt schon seit mehr als einer halben Stunde nachlaufen?«
Er ist ziemlich gut, dachte Leamas. Er hat sich bisher noch nichts anmerken lassen, man muß ihn hart anfassen.
»Ich meinte, ich hätte Sie schon einmal in Berlin gekannt, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.«
»Deshalb sind Sie mir eine halbe Stunde nachgelaufen?« Leamas' Stimme war voller Sarkasmus. Seine braunen Augen wandten sich keinen Moment vom Gesicht des anderen ab.
»Es war keine halbe Stunde. Ich hab' Sie beim Marble Arch gesehen, und mir kam's vor, als wären Sie Alec Leamas - ein Mann, von dem ich mir einmal Geld geliehen hatte. Ich hab' beim britischen Rundfunk in Berlin gearbeitet, müssen Sie wissen, und da war auch dieser Leamas, der mir Geld borgte. Ich hab' seitdem oft Gewissensbisse gehabt, und als ich Sie sah, bin ich Ihnen gefolgt, um mir Gewißheit zu verschaffen.«
Leamas schaute ihn weiterhin wortlos an. Der Kerl war doch nicht so gut, wie er zuerst gedacht hatte, aber er war immerhin gut genug. Seine Geschichte war zwar nicht sehr plausibel, aber das spielte keine Rolle. Viel wichtiger war, dass er jetzt eine neue Geschichte erfunden hatte und bei ihr blieb, nachdem sein erster, fast klassisch zu nennender Annäherungsversuch von Leamas zerstört worden war.
»Ich bin Leamas«, sagte er schließlich. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«
Er sagte, sein Name sei Ashe, mit einem »E«, wie er schnell hinzufügte, und Leamas wußte, dass er log. Er tat so, als sei er noch nicht ganz davon überzeugt, dass Leamas wirklich Leamas war, so dass sie während des Mittagessens das Paket öffneten und seinen Krankenversicherungsausweis betrachteten. Wie ein paar Schwächlinge vor einem schmutzigen Foto, dachte Leamas. Ashe bestellte das Essen, wobei er den Preisen um einen Bruchteil zuwenig Beachtung schenkte, und sie tranken Frankenwein, um sich der vergangenen Tage zu erinnern. Leamas begann das Gespräch mit der Versicherung, dass er sich nicht an Ashe erinnern könne, während Ashe beteuerte, dass ihn das überrasche. Er schien verletzt. Er sagte, sie seien sich auf einer Party begegnet, die Derek Williams in seiner Wohnung unweit des Kurfürstendammes (das war richtig beschrieben) einmal gegeben habe, alle Zeitungsleute seien dagewesen, und es sei ausgeschlossen, dass sich Alec jetzt nicht mehr daran erinnern könne.