Nein, Leamas konnte sich nicht erinnern. Aber ganz bestimmt mußte er doch noch Derek Williams vom Observer kennen, diesen netten Mann, der so reizende Pizzapartys gab? Leamas hatte jedoch für Namen ein sehr schlechtes Gedächtnis, und sie sprachen schließlich vom Jahre 1954. Seit damals ist eine Menge Wasser den Berg hinuntergeflossen … Ashe - sein Vorname war William, und die meisten Leute riefen ihn Bill - erinnerte sich jedoch klar und deutlich daran. Sie hätten anregende Sachen getrunken, Brandy und Crème de Menthe, und seien alle ziemlich angeheitert gewesen. Derek habe für ein paar prächtige Mädchen gesorgt, das halbe Kabarett vom »Malkasten«, daran müßte sich Alec doch jetzt erinnern? Leamas meinte, es werde ihm alles wieder einfallen, wenn Bill noch etwas weitererzählte.
Bill erzählte tatsächlich weiter, ohne Zweifel alles frei erfunden, aber er machte es gut, indem er das Sexuelle etwas in den Vordergrund spielte und erzählte, dass sie am Ende mit drei von diesen Mädchen in einem Nachtlokal gewesen seien. Nämlich Alec, ein netter Kerl vom politischen Beratungsbüro und Bill. Er selbst sei in Verlegenheit gewesen, weil er kein Geld bei sich gehabt habe, Alec habe bezahlt, und da Bill eines der Mädchen mit heimnehmen wollte, habe ihm Alec noch einen Hunderter geliehen.
»Aber klar!« rief Leamas. »Jetzt erinnere ich mich. Natürlich!«
»Ich war sicher«, sagte Ashe glücklich, indem er Leamas über sein Glas hinweg zunickte. »Laß uns noch einen trinken. Es ist so gemütlich.«
Ashe war ein Musterbeispiel jenes Typs, der seine Beziehungen zu anderen Menschen nach dem Prinzip von Angriff und Nachgiebigkeit gestaltet. Wo er Weichheit spürte, stieß er vor, wo er Widerstand fand, wich er zurück. Da er selbst weder eine bestimmte Meinung noch Geschmack besaß, verließ er sich stets auf das Urteil seiner jeweiligen Begleitung. Er hätte ebensogern Tee bei »Fortnum« wie Bier im Aussichtslokal von Whitby getrunken, wäre mit gleicher Begeisterung zur Militärmusik im St.-James-Park wie zum Jazz in einem Keller der Compton Street gegangen, und bei der Schilderung des Elends in dem farbigen Viertel von Sharpeville hätte seine Stimme ebenso bereitwillig vor Mitleid gebebt wie vor Zorn, wenn er über das Anwachsen der Negerbevölkerung in England gesprochen hätte. Leamas widerte diese ausgesprochen passive Art an, sie weckte die Kampflust in ihm, und er steuerte Ashe im Lauf des Gespräches mit spielender Leichtigkeit dauernd in Positionen hinein, in denen der andere festgelegt war, während er selbst sich zurückzog, so dass Ashe ständig versuchen mußte, aus jenen Sackgassen wieder herauszukommen, in die ihn Leamas gelockt hatte. Während des Nachmittags gab es Augenblicke, in denen die perverse Unverschämtheit von Leamas es Ashe ohne weiteres erlaubt hätte, das Gespräch abzubrechen - nicht zuletzt deshalb, weil er ja dafür zahlte. Aber Ashe überhörte dies alles geflissentlich und blieb.
Hätte der traurige kleine Mann am Nebentisch, der hinter seiner Brille in ein Buch über die Fabrikation von Kugellagern vertieft war, ihrer Unterhaltung zugehört, so hätte er zu dem Schluß kommen müssen, dass Leamas gerade seiner sadistischen Neigung freien Lauf ließ - oder, wäre er ein Mann von besonderem Scharfsinn gewesen, dass sich Leamas gerade eine Bestätigung dafür zu verschaffen suchte, dass nur ein sehr triftiger verborgener Grund einen Mann dazu bringen konnte, sich diese Behandlung gefallen zu lassen.
Es war fast vier Uhr, bevor sie die Rechnung verlangten, und Leamas versuchte ernsthaft, seinen Anteil zu zahlen. Aber Ashe wollte davon nichts hören, bezahlte die Rechnung und nahm ein Heft mit Überweisungsformularen heraus, um seine alte Schuld zu begleichen.
»Zwanzig von den Besten«, sagte er und füllte das Datum auf dem Formular aus. Dann schaute er Leamas treuherzig an. »Übrigens, eine Überweisung ist dir doch recht, wie?«
Leamas erwiderte etwas verlegen: »Ich stehe im Moment mit keiner Bank in Verbindung - bin gerade erst aus dem Ausland zurück und muß das erst regeln. Gib mir lieber einen Scheck, den ich bei deiner Bank einlösen kann.«
»Daran würde ich nicht im Traum denken, mein Lieber. Du müßtest nach Rotherhithe hinausfahren, um den zu kassieren.«
Leamas zuckte mit den Achseln, und Ashe lachte. Sie kamen überein, sich morgen mittag am gleichen Ort wieder zu treffen. Ashe werde das Geld in bar bringen.
An der Compton Street nahm Ashe ein Taxi, und Leamas winkte ihm nach, bis er außer Sicht war. Als der Wagen fort war, schaute er auf seine Uhr. Es war vier. Er nahm an, dass er noch beobachtet würde. Deshalb ging er die Fleet Street hinunter und trank eine Tasse Kaffee bei »Black and White«. Er schaute Buchläden an, las die Abendzeitungen, die in Schaukästen an den Verlagsgebäuden ausgehängt waren, und sprang dann plötzlich, so als sei ihm auf einmal etwas eingefallen, in einen Bus. Der Bus fuhr nach Ludgate Hill. In der Nähe einer U-Bahn-Station gab's eine Verkehrsstockung, die Leamas dazu benützte, abzuspringen und mit irgendeinem Zug der U-Bahn weiterzufahren, nachdem er eine Sechspennykarte gekauft hatte. Er stellte sich in den hintersten Wagen und stieg schon auf der nächsten Station wieder aus, wo gerade ein Zug nach Euston stand. Von dort fuhr er nach Charing Cross zurück. Es war neun Uhr, als er den Bahnhof erreichte, und ziemlich kalt. Auf dem Bahnhofsvorplatz wartete ein Lieferwagen, dessen Fahrer schlief. Leamas las das Nummernschild, ging hin und rief durch die Scheibe:
»Sind Sie von Clements?« Der Fahrer schreckte hoch und fragte:
»Mr. Thomas?«
»Nein«, antwortete Leamas. »Thomas konnte nicht kommen. Ich bin Amies aus Hounslow.«
»Steigen Sie ein, Mr. Amies«, erwiderte der Fahrer und machte die Tür auf. Sie fuhren Richtung King's Road. Der Fahrer kannte den Weg.
Der Chef öffnete die Tür. »George Smiley ist nicht da«, sagte er. »Ich habe sein Haus geliehen. Kommen Sie herein.«
Erst als Leamas drinnen und die Eingangstür geschlossen war, schaltete der Chef das Licht in der Diele ein.
»Ich wurde bis Mittag beschattet«, sagte Leamas. Sie gingen in den kleinen, mit Büchern gefüllten Wohnraum. Es war ein hübsches Zimmer, an der hohen Decke waren Stuckarbeiten aus dem 18. Jahrhunden, es hatte hohe Fenster und einen guten Kamin.
»Sie haben heute morgen Kontakt mit mir aufgenommen. Ein Mann namens Ashe.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ein Schwuler. Wir treffen uns morgen wieder.«
Der Chef hörte sich die Geschichte von Leamas Etappe für Etappe aufmerksam an, beginnend bei dem Tag, an dem Leamas den Krämer niedergeschlagen hatte, bis zur Begegnung mit Ashe.
»Wie war's im Gefängnis?« erkundigte sich der Chef. Genausogut hätte er fragen können, ob Leamas einen angenehmen Urlaub verbracht hatte. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht mit kleinen Sondergeschichten gewisse Erleichterungen verschaffen konnten, aber das wäre ungeschickt gewesen.«
»Natürlich!«
»Man muß konsequent sein. Bei jeder Wende muß man konsequent sein. Außerdem wäre es falsch, den Reiz der Echtheit zu zerstören. Ich habe gehört, dass Sie krank waren. Das tut mir leid. Was war es?«
»Nur Fieber.«
»Wie lange waren Sie im Bett?«
»Ungefähr zehn Tage.«
»Wie unangenehm! Und niemand, der Sie versorgt hat, natürlich?«
Es entstand eine lange Pause.
»Sie wissen, dass sie in der Partei ist, wie?« fragte der Chef ruhig.
»Ja«, entgegnete Leamas. Wieder Schweigen. »Ich wünsche nicht, dass sie da hineingezogen wird.«
»Warum sollte sie?« fragte der Chef scharf. Leamas dachte für einen Augenblick, freilich nicht länger als einen Augenblick, er habe die Fassade fast wissenschaftlicher Unbeteiligtheit durchdrungen.