Es sah so aus, als wolle er noch etwas sagen, überlege es sich dann aber anders. Ashe schien weniger beleidigt als vielmehr beunruhigt zu sein, und Kiever wirkte so undurchsichtig wie zuvor.
Leamas wollte während der Fahrt im Taxi nichts sagen. Ashe versuchte es mit einer versöhnlichen Bemerkung, aber Leamas zuckte nur gereizt mit den Achseln. Als sie in der Wardour Street angekommen waren, machten weder Leamas noch Kiever irgendeinen Versuch, das Taxi zu zahlen. Ashe führte sie an einem Schaufenster voller Aktmagazine vorbei, eine enge Gasse hinunter, an deren entfernterem Ende ein flimmerndes Neonschild leuchtete: »Weidenkätzchenklub. Nur Mitglieder.« Zu beiden Seiten der Tür hingen Fotos von Mädchen, über die quer dünne Papierstreifen liefen, die mit der Hand geschrieben waren: »Naturstudium. Nur Mitglieder.«
Ashe drückte auf die Glocke. Sofort wurde von einem sehr großen Mann in weißem Hemd und schwarzen Hosen aufgemacht. »Ich bin Mitglied«, sagte Ashe. »Diese zwei Herren gehören zu mir.«
»… Ihre Karte sehen?«
Ashe nahm eine gelbe Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm.
»Ihre Gäste zahlen für sofortige Mitgliedschaft ein Pfund pro Kopf. Auf Ihre Empfehlung, recht so?« Er hielt Ashe die Karte hin, Leamas schob sich an Ashe vorbei und nahm sie. Er betrachtete sie einen Augenblick und gab sie dann zurück.
Leamas zog zwei Pfund aus der Tasche und drückte sie dem wartenden Mann in die Hand.
»Zwei Pfund für die Gäste«, sagte Leamas. Er ignorierte den erstaunten Protest Ashes, schlug den Vorhang am Klubeingang zurück und ging ins Halbdunkel voraus.
Er sagte zu dem Portier: »Verschaffen Sie uns einen Tisch und eine Flasche Scotch. Und sorgen Sie dafür, dass wir in Ruhe gelassen werden.«
Der Portier zögerte einen Augenblick, entschied sich aber dafür, nicht zu widersprechen, und geleitete sie nach unten, von wo ihnen das gedämpfte Wehklagen undeutlicher Musik entgegenklang. Sie bekamen im hinteren Teil des Raumes einen Tisch für sich. Eine Zweimannkapelle spielte, und mehrere Mädchen saßen zu zweit und zu dritt herum. Zwei waren aufgestanden, als sie hereinkamen, aber der Portier winkte ihnen ab. Ashe schaute unruhig auf Leamas, während sie auf den Whisky warteten. Kiever schien leicht gelangweilt zu sein. Der Kellner brachte eine Flasche und drei Gläser, und sie beobachteten schweigend, wie er Whisky in jedes Glas einschenkte. Leamas nahm dem Kellner die Flasche aus der Hand und goß die gleiche Menge nach. Als er damit fertig war, lehnte er sich über den Tisch und sagte zu Ashe: »Vielleicht wirst du mir jetzt erklären, was hier vor sich geht.«
»Wie meinst du das?« Ashe war unsicher. »Was meinst du damit, Alec?«
»An dem Tag, als ich entlassen wurde«, begann Leamas ruhig, »bist du mir schon vom Gefängnis nachgelaufen, und zwar mit einer albernen Geschichte über unsere angebliche Begegnung in Berlin. Dann hast du mir Geld gegeben, das du mir nicht schuldig warst. Du hast mich zu teuren Mahlzeiten eingeladen und du nimmst mich in deine Wohnung auf.«
Ashe wurde verlegen und sagte: »Wenn dir das …«
»Unterbrich mich nicht«, sagte Leamas wütend. »Warte gefälligst, bis ich fertig bin, verstanden? Deine Mitgliedskarte für dieses Lokal ist auf den Namen Murphy ausgestellt. Ist das dein Name?«
»Nein, das ist er nicht.«
»Ich nehme an, ein Bekannter namens Murphy hat dir seine Mitgliedskarte geliehen?«
»Nein, das hat er nicht. Wenn du es schon wissen mußt: ich komme manchmal her, um mir ein Mädchen aufzulesen. Ich wollte nicht mit dem richtigen Namen in den Klub eintreten.«
»Warum ist am Dolphin Square dann Murphy als der Mieter deiner Wohnung eingetragen?«
Jetzt schaltete sich Kiever ein: »Geh nach Hause«, sagte er zu Ashe. »Ich werde mich um das Weitere kümmern.«
Auf der Bühne wurde ein Striptease vorgeführt. Das Mädchen war ein junges, langweiliges Ding. Sie war von jener armseligen, spindeldürren Nacktheit, die in Verlegenheit versetzt, weil keine Erotik von ihr ausgeht und weil sie kunstlos ist, ohne Verlangen zu wecken. Sie drehte sich langsam, wobei sie nur manchmal mit einem Arm oder einem Bein zuckte, so als höre sie die Musik nur in Bruchstücken. Dabei sah sie die ganze Zeit mit dem frühreifen Interesse eines Kindes, das in die Gesellschaft von Erwachsenen geraten ist, zu ihnen her. Plötzlich steigerte die Musik ihr Tempo, und das Mädchen reagierte darauf, wie ein Hund auf die Pfeife, indem es vor und zurück hüpfte. Beim letzten Akkord nahm sie ihren Büstenhalter ab, hielt ihn über ihren Kopf und stellte ihren mageren Körper zur Schau, von dem an drei Stellen Flitter herunterhing wie alter Christbaumschmuck.
Leamas und Kiever sahen schweigend zu.
»Ich nehme an, Sie werden mir jetzt erzählen, dass wir in Berlin Besseres gesehen haben«, bemerkte Leamas schließlich. Kiever merkte, dass der andere noch immer sehr ärgerlich war.
»Ich vermute, dass Sie das haben!« entgegnete Kiever liebenswürdig. »Ich selbst bin zwar oft in Berlin gewesen, aber leider muß ich gestehen, dass ich Nachtklubs verabscheue.« Leamas schwieg. »Ich bin nicht prüde, verstehen Sie, aber ich bin vernünftig. Ich weiß billigere Methoden, um eine Frau zu finden, wenn ich eine brauche. Und wenn ich tanzen will, kenne ich bessere Lokale.« Leamas hatte ihm nicht zugehört.
»Vielleicht erzählen Sie mir, warum sich dieser warme Bruder aufgedrängt hat«, schlug er vor.
»Gern«, nickte Kiever. »Ich gab ihm den Auftrag.«
»Warum?«
»Ich bin interessiert an Ihnen. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, einen journalistischen Vorschlag.«
Eine Pause entstand.
»Aha. Einen journalistischen«, wiederholte Leamas. »Ich verstehe.«
»Ich habe eine Agentur, einen internationalen Feuilletondienst. Die Agentur zahlt gut - sehr gut - für interessantes Material.«
»Wer wird es veröffentlichen?«
»Ich zahle so gut, dass ein Mann mit Ihren Erfahrungen im … im internationalen Geschehen, ein Mann mit Ihrem Hintergrund, verstehen Sie, der überzeugendes Tatsachenmaterial liefern kann, in verhältnismäßig kurzer Zeit aus allen finanziellen Schwierigkeiten heraus wäre.«
»Wer veröffentlicht das Material, Kiever?« In seiner Stimme war ein drohender Unterton, und für einen Augenblick schien sich Angst in Kievers glattes Gesicht zu schleichen.
»Internationale Kunden. Ich habe einen Mitarbeiter in Paris, der eine Menge meines Stoffes absetzt. Oft weiß ich gar nicht einmal, wo eigentlich etwas veröffentlicht wird.« Er setzte mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu: »Ich muß gestehen, dass ich mich nicht sonderlich darum kümmere. Man zahlt und verlangt nach mehr. Sehen Sie, Leamas: meine Kunden gehören zu den Leuten, die wegen dummer Einzelheiten keine großen Geschichten machen. Sie zahlen prompt und sind noch dazu froh, wenn sie in ausländischen Banken einzahlen können, wo niemand nach Steuern fragt.«
Leamas sagte nichts. Er hielt sein Glas mit beiden Händen und starrte hinein.
Jetzt überschlägt er sich direkt, dachte Leamas, es ist schon fast unanständig. Ein alberner Varietescherz fiel ihm ein: »Dies ist ein Angebot, das kein anständiges Mädchen annehmen kann - außerdem wüßte ich nicht, ob sich's bei ihr auszahlt.«
Taktisch handeln sie richtig, wenn sie es jetzt beschleunigen, dachte er. Ich bin über meine Vorgesetzten wütend, das Gefängniserlebnis ist frisch, der soziale Groll stark. Ich bin ein alter Gaul, der nicht erst zugeritten werden muß. Ich brauche nicht so zu tun, als hätten sie die Ehre eines englischen Gentlemens verletzt. Auf der anderen Seite würden sie sachliche Einwände erwarten. Sie erwarteten sicherlich, dass er Angst bekam, denn seine Organisation war bei der Verfolgung eines Verräters so unnachsichtig wie das Auge Gottes, das Kain durch die Wüste folgte.
Aber schließlich mußten sie wissen, dass es ein Glücksspiel war. Sie waren sich sicher im klaren darüber, dass die Unberechenbarkeit jedes menschlichen Entschlusses das bestgeplante Spionagenetz zerreißen konnte, denn es gab schon Betrüger, Lügner und Verbrecher, die allen schmeichlerischen Künsten zu widerstehen vermochten, während angesehene Gentlemen allein durch den wäßrigen Kohl in einer Regierungskantine zum größten Verrat gebracht worden waren.