Vom Zoll gingen sie durch den Korridor zur Eingangshalle auf der anderen Seite der Flughafengebäude hinüber. Kiever steuerte auf den Hauptausgang zu, durch kleine Menschengruppen hindurch, die geistesabwesend auf die Auslagen von Parfümerie-, Foto- und Obstkiosken starrten. Als sie ihren Weg durch die Drehglastür nahmen, schaute Leamas zurück. Am Zeitungskiosk, vertieft in eine Ausgabe der Continental Daily Mail, stand eine kleine froschartige Gestalt mit einer großen Brille: ein ernster, mit Sorgen beladener kleiner Mann. Er sah aus wie ein Staatsbeamter. Oder so etwas Ähnliches.
Auf dem Parkplatz wurden sie von einem Volkswagen mit einer holländischen Nummer erwartet. Die Frau, die hinter dem Steuer saß, nahm keine Notiz von ihnen. Sie fuhr langsam und hielt an Verkehrsampeln immer schon bei gelbem Licht. Leamas zog daraus den Schluß, dass man ihr diese Fahrweise vorgeschrieben hatte, damit ein anderer Wagen folgen konnte. Er beobachtete den Außenrückspiegel rechts und versuchte, den Wagen zu erkennen, aber ohne Erfolg. Er sah einmal einen schwarzen Peugeot mit einer CD-Nummer, aber als sie dann um die Ecke bogen, war nur noch ein Möbeltransporter hinter ihnen. Er kannte Den Haag ziemlich gut vom Krieg her, und er versuchte herauszubekommen, wo es hinging. Er schätzte, dass sie auf eine Stelle nordwestlich von Scheveningen zufuhren. Sie hatten bald die Vororte passiert und näherten sich einer Villenkolonie, die zwischen Dünen und Meer lag. Hier hielten sie. Die Frau stieg aus und läutete an der Tür des ersten von einer Reihe kleiner, cremefarbener Bungalows. Sein Name, Le Mirage, stand in blaßblauen gotischen Schriftzeichen auf einer Eisentafel über der Tür. Im Fenster stand ein Schild, dass alle Zimmer besetzt seien.
Die Tür wurde von einer freundlichen, dicken Frau aufgemacht, die an der Fahrerin vorbei nach dem Wagen schaute. Sie kam freudestrahlend die Auffahrt herunter. Sie erinnerte Leamas an seine Kindheit, an eine alte Tante, die ihn geschlagen hatte, weil er Bindfaden vergeudete.
»Wie schön, dass Sie gekommen sind!« erklärte sie. »Wir freuen uns schrecklich.«
Kiever ging voran. Die Fahrerin stieg wieder in den Wagen. Leamas blickte die Straße zurück, die sie gerade gekommen waren. Hundert Meter entfernt hielt ein schwarzer Wagen, ein Fiat vielleicht, oder ein Peugeot. Ein Mann in einem Regenmantel stieg aus.
In der Diele schüttelte die Frau herzlich Leamas' Hand. »Willkommen in Le Mirage. Schöne Reise gehabt?«
»Sehr schön«, erwiderte Leamas.
»Sind Sie geflogen oder mit dem Schiff gekommen?«
»Wir sind geflogen«, sagte Kiever; »ein ausgezeichneter Flug.« Er hätte Inhaber der Fluggesellschaft sein können.
»Ich werde Ihr Mittagessen machen«, erklärte sie, »etwas Besonderes. Ich werde Ihnen etwas besonders Gutes machen. Was soll ich Ihnen bringen?«
»Guter Gott«, sagte Leamas leise, und die Türglocke läutete. Die Frau ging schnell in die Küche. Kiever öffnete die Eingangstür.
Er trug einen Regenmantel mit Lederknöpfen. Er hatte ungefähr Leamas' Größe, war aber älter. Leamas schätzte ihn auf ungefähr fünfundfünfzig. Sein Gesicht hatte eine ungesunde graue Farbe und scharfe Furchen. Er hätte Soldat sein können. Er streckte die Hand aus.
»Mein Name ist Peters«, sagte er. Seine Finger waren schlank und gepflegt.
»Hatten Sie eine gute Reise?«
»Ja«, sagte Kiever schnell, »ziemlich ereignislos.«
»Mr. Leamas und ich haben eine Menge zu besprechen. Ich glaube nicht, dass wir dich brauchen, Sam. Du könntest mit dem Volkswagen zur Stadt zurückfahren.«
Kiever lächelte. Leamas sah, wie erleichtert er war. »Auf Wiedersehen, Leamas«, sagte Kiever mit scherzender Stimme. »Viel Glück, alter Junge.«
Leamas nickte, ohne Kievers Hand zu beachten.
»Auf Wiedersehen«, wiederholte Kiever und ging still zur Eingangstür hinaus.
Leamas folgte Peters in einen rückwärtigen Raum. Vor den Fenstern hingen schwere, mit Fransen verzierte und kunstvoll in Falten geraffte Vorhänge. Das Fensterbrett war mit Topfpflanzen überladen, mit Kakteen, Tabakpflanzen und einem seltsamen Baumgewächs mit breiten weichen Blättern. Die Möbel waren schwer und pseudoantik. In der Mitte des Raumes standen ein Tisch und zwei geschnitzte Stühle. Auf dem Tisch lag eine schwere, rostrote Decke, die fast wie ein Teppich wirkte, und auf ihr waren vor jedem Stuhl Bleistifte und Papier bereitgelegt. Auf einer Anrichte standen Whisky und Soda. Peters ging hin und machte ihnen einen Drink.
»Hören Sie«, sagte Leamas plötzlich, »von jetzt an komme ich ohne Ihre Aufmerksamkeiten aus. Sie verstehen, was ich meine? Wir beide wissen, woran wir sind: wir sind Fachleute. Sie haben einen bezahlten Überläufer bekommen - viel Erfolg mit ihm. Aber tun Sie um Himmels willen nicht so, als wären Sie in mich verliebt.«
Es klang nervös, als ob er seiner selbst nicht ganz sicher sei.
Peters nickte. »Kiever sagte mir schon, Sie seien ein stolzer Mann«, bemerkte er unbefangen. Dann fügte er ohne Lächeln hinzu: »Warum sonst sollte sich ein Mann an Ladenbesitzern vergreifen?«
Leamas vermutete, Peters sei Russe, aber er war nicht ganz sicher. Peters' Englisch war nahezu vollkommen, er hatte die Ungezwungenheit und das Benehmen eines Mannes, der schon lange an zivilisierten Komfort gewöhnt ist.
Sie setzten sich an den Tisch.
»Kiever hat Ihnen gesagt, was ich Ihnen zahlen will?« erkundigte sich Peters.
»Ja. Fünfzehntausend Pfund, abzuheben auf einer Berner Bank.«
»Ja.«
»Er sagte, Sie würden im Lauf des nächsten Jahres vielleicht weitere Fragen haben«, sagte Leamas. »Sie seien zur Zahlung weiterer fünftausend bereit, wenn ich mich zur Verfügung hielte.«
Peters nickte.
»Diese Bedingung nehme ich nicht an«, fuhr Leamas fort. »Sie wissen so gut wie ich, dass sich das nicht machen läßt. Ich möchte in der Lage sein, die Fünfzehntausend abheben und dann verschwinden zu können. Ihre Leute haben eine rauhe Art, mit abgesprungenen Agenten umzugehen, und genauso ist es bei uns. Ich werde mich nicht in St. Moritz auf meine vier Buchstaben setzen, während Sie jedes Netz aufrollen, das ich Ihnen gegeben habe. Meine Leute sind keine Idioten. Es wäre ihnen klar, nach wem sie zu suchen hätten. Soviel Sie und ich wissen, sind sie jetzt hinter uns her.«
Peters nickte: »Sie könnten doch aber … wohin gehen, wo es sicher ist?«
»Hinter den Vorhang?«
Ja.«
Leamas schüttelte nur den Kopf und sagte:
»Ich denke, Sie werden für die einleitende Befragung drei Tage brauchen. Dann wollen Sie sicherlich nach Hause berichten, um genaue Instruktionen zu erhalten.«
»Nicht unbedingt«, antwortete Peters.
Leamas sah ihn interessiert an.
»Ich verstehe«, sagte er. »Man hat den Experten geschickt. Oder ist die Moskauer Zentrale nicht mit im Spiel?«
Peters schwieg. Er sah Leamas nur abschätzend an. Schließlich nahm er den Bleistift in die Hand und sagte: »Wollen wir mit Ihrem Kriegseinsatz beginnen?«
Leamas zuckte mit den Schultern: »Das ist Ihre Sache.«
»Richtig. Wir fangen mit dem Kriegseinsatz an. Sprechen Sie.«
»Neununddreißig kam ich zu den Pionieren. Ich war gerade am Ende meiner Ausbildung, als man durch einen Aufruf nach Leuten mit Sprachkenntnissen suchte. Sie sollten sich für Spezialeinsätze im Ausland melden. Ich konnte Holländisch und Deutsch und ziemlich gut Französisch. Außerdem hatte ich vom Soldatendasein genug. Also meldete ich mich. Ich kannte Holland gut. Mein Vater hatte in Leyden eine Vertretung für Werkzeugmaschinen, und ich habe neun Jahre dort gelebt. Ich wurde auf die übliche Weise ausgefragt und kam dann auf eine Schule in der Nähe von Oxford, wo man mir die bekannten Tricks beibrachte.«
»Wer leitete die Schule?«
»Am Anfang wußte ich's nicht. Dann lernte ich Steed-Asprey kennen, und einen Oxforddozenten namens Fielding. Sie leiteten sie. Einundvierzig wurde ich in Holland abgesetzt, dort blieb ich fast zwei Jahre. Wir verloren die Agenten damals schneller, als sie zu finden waren. Es war reiner Mord. Holland ist für diese Art Arbeit eine verflucht schlechte Gegend - es gibt keine einsamen Landstriche und keine abseits gelegenen Stellen, wo man eine Zentrale errichten oder ein Funkgerät aufbauen könnte. Immer in Bewegung, immer auf der Flucht. Es war eine scheußliche Sache. Dreiundvierzig kam ich raus und war einige Monate in England. Dann versuchte ich mich in Norwegen - verglichen mit Holland eine Landpartie. Fünfundvierzig wurde ich ausgezahlt und ging nach Holland zurück, um das alte Geschäft meines Vaters wieder aufzumachen. Es war nichts. Also tat ich mich mit einem alten Freund zusammen, der ein Reisebüro in Bristol hatte. Das dauerte achtzehn Monate, dann waren wir pleite. Plötzlich kam aus heiterem Himmel ein Brief vom Geheimdienst: Ob ich nicht zurückkommen wollte? Aber ich meinte, ich hätte inzwischen von diesem Kram genug gehabt. Deshalb antwortete ich, ich würde es mir überlegen. Ich mietete mir ein Landhaus auf Lundy Island. Dort blieb ich ein Jahr und dachte über meine Verdauung nach, bis mir auch das langweilig geworden war. Ich schrieb ihnen also. Ende neunundvierzig stand ich wieder auf der Gehaltsliste. Unterbrochener Dienst freilich - verminderter Pensionsanspruch und die üblichen Einschränkungen. Mache ich zu schnell?«