Ashe, Kiever, Peters: das war eine unübersehbare Steigerung der Qualität, der Autorität, was für Leamas das Wesentliche an der Rangordnung eines Spionagenetzes darstellte. Er nahm an, dass mit dieser Steigerung ein Fortschritt im Bereich des Moralischen verbunden war: Ashe, der Söldling; Kiever, der Mitläufer; und jetzt Peters, für den sich die Mittel allein aus dem Ziel rechtfertigten.
Leamas begann über Berlin zu sprechen. Peters unterbrach ihn kaum, stellte selten eine Frage oder machte eine Bemerkung. Aber wenn er es tat, so zeigte er eine technische Wißbegier und eine Gewandtheit, die vollkommen der Art von Leamas entsprach. Leamas schien sich von der leidenschaftslosen, berufsmäßigen Sachlichkeit seines Befragers sogar angenehm angesprochen zu fühlen - es war die Art, die ihnen beiden gemeinsam war.
Es habe viel Zeit in Anspruch genommen, ein brauchbares Netz von Berlin aus in der Ostzone aufzubauen, erklärte Leamas. In den ersten Jahren war die Stadt von zweitklassigen Agenten überschwemmt: Die Nachrichtenbeschaffung in Berlin war entwertet und zu einer so alltäglichen Sache gemacht worden, dass man einen neuen Mann bei einer Cocktailparty anwerben und beim Abendessen instruieren konnte, und bis zum Frühstück war er dann schon hochgegangen. Für einen Fachmann war es ein Alptraum: Dutzende verschiedener Organisationen, von denen die Hälfte mit Gegenagenten durchsetzt war, Tausende von losen Enden, zu viele Hinweise, zu wenig ernsthafte Quellen, zu wenig Raum, um operieren zu können. Wohl gab es mit Feger 1954 einen vielversprechenden Anfang, aber ausgerechnet 1956, als jede Geheimdienstabteilung nach erstklassigen Informationen schrie, steckten sie in einer ausgesprochenen Flaute. Feger hatte sie finanziell ausgeplündert, aber nur zweitklassiges Material dafür geliefert, das den allgemeinen Nachrichten nur um eine Nasenlänge voraus war. Sie hätten die eigentlichen, entscheidenden Informationen gebraucht - und sie mußten weitere drei Jahre warten, ehe sie diese Art Sachen bekamen.
Sie stießen auf die Quelle, als de Jong eines Tages einen Picknickausflug in die Wälder am Rande Ostberlins machte. Er fuhr einen Wagen mit britischer Militärnummer, den er auf einem Weg neben dem Kanal abgeschlossen parkte. Nach dem Picknick liefen die Kinder mit dem Korb voraus. Als sie den Wagen erreichten, blieben sie stehen, zögerten, ließen den Korb fallen und rannten zurück. Jemand hatte die Wagentür aufgebrochen. Der Griff war beschädigt und die Tür leicht geöffnet. De Jong fluchte, weil er sich erinnerte, dass er die Kamera im Handschuhfach gelassen hatte. Er ging hin und untersuchte den Wagen. Der Türgriff war abgebrochen. De Jong nahm an, dass man ein Stück Stahlrohr verwendet hatte, wie man es im Ärmel verstecken kann. Aber die Kamera war noch da, ebenso sein Jacke und einige Pakete, die seiner Frau gehörten. Auf dem Fahrersitz lag eine Tabakbüchse, und in der Büchse eine kleine Nickelpatrone. De Jong wußte genau, was sie enthielt; es war die Filmpatrone einer Kleinstbildkamera, wahrscheinlich einer Minox.
De Jong fuhr heim und entwickelte den Film. Er enthielt das Protokoll der letzten Präsidialsitzung der SED. Durch einen kuriosen Zufall hatten sie Vergleichsmaterial aus einer anderen Quelle - die Aufnahmen waren echt.
Leamas übernahm den Fall. Er hatte einen Erfolg dringend nötig. Seit seiner Ankunft in Berlin hatte er praktisch noch nichts erreicht und er stand schon nahe an der für hauptberufliche Organisationsarbeit üblichen Altersgrenze. Genau eine Woche später fuhr er mit de Jongs Wagen zum selben Platz und machte einen Spaziergang.
Es war ein trostloser Fleck, den sich de Jong für sein Picknick ausgesucht hatte: ein Stück Kanal, daneben die Trümmer von einigen gesprengten Bunkern, ringsum ausgedörrte, sandige Felder und auf der Ostseite - ungefähr siebzig Meter von dem am Kanal entlangführenden Schotterweg entfernt - ein spärlicher Kiefernwald. Aber der Fleck hatte den Vorteil, einsam zu liegen - etwas, das in Berlin selten zu finden war. Eine heimliche Überwachung war hier ausgeschlossen. Leamas ging in den Wald. Weil er nicht wußte, aus welcher Richtung die Annäherung erfolgen würde, machte er keinen Versuch, den Wagen zu beobachten. Er fürchtete, das Vertrauen seines Informanten zu erschüttern, wenn er ihn heimlich zu beobachten versuchte und dabei gesehen würde. Freilich war diese Sorge nicht nötig.
Als er zurückkam, war nichts im Wagen, und er fuhr nach Westberlin zurück, wobei er sich für seine Dummheit hätte ohrfeigen mögen: für weitere zwei Wochen stand keine Präsidialsitzung auf dem Programm. Nach drei Wochen borgte er sich wieder de Jongs Wagen und nahm diesmal tausend Dollar in Zwanzigern in seinem Picknickkoffer mit. Er ließ den Wagen unabgeschlossen zwei Stunden stehen, und als er zurückkehrte, lag eine Tabakbüchse im Handschuhfach. Der Picknickkoffer war verschwunden.
Die Filme waren erstklassiges Dokumentarmaterial. In den nächsten sechs Wochen fuhr er noch zweimal. Jedesmal mit dem gleichen Ergebnis.
Leamas wußte, dass er auf eine Goldader gestoßen war. Er gab der Quelle den Decknamen »Mayfair« und schickte einen pessimistischen Brief nach London. Hätte er London Appetit auf die Sache gemacht, hätte man dort nicht gezögert, den Fall an sich zu ziehen und ihn direkt zu kontrollieren. Leamas wußte dies und er war verzweifelt bemüht, es zu verhindern, denn die Operation »Mayfair« war wohl die einzige Möglichkeit, mit der er sich vor der Pensionierung schützen konnte, aber es bestand die Gefahr, dass man ihn ausbooten würde, weil die Sache für London groß genug war, um sie selbst zu übernehmen. Auch wenn er das Rondell auf Armlänge davon weghielt, bestand noch immer die Gefahr, dass es Theorien aufstellen, Vorschläge machen, zur Vorsicht drängen, bestimmte Aktionen befehlen würde. Sie hätten zum Beispiel verlangen können, dass er nur mit neuen Dollarnoten zahlte, deren Spur man folgen konnte. Sie wären imstande gewesen, sich die Filmpatronen zur Untersuchung nach London schicken zu lassen. Sie hätten schwerfällige Beschattungsoperationen planen und die anderen Abteilungen davon unterrichten können. Vor allem hätten sie die anderen Abteilungen informieren wollen, und das, sagte sich Leamas, hätte alles für immer verdorben. Drei Wochen arbeitete er verbissen daran, die Personalakten des Parteipräsidiums durchzukämmen. Er hoffte, auf diesem Weg einen Hinweis auf die Person seines Informanten zu bekommen, ehe das Rondell Blut geleckt hatte. Er legte eine Liste aller Büroangestellten an, die möglicherweise Zugang zu den Protokollen haben könnten. Auf Grund der Verteilerliste, die zusammen mit der letzten Seite des Sitzungsprotokolls fotografiert war, belief sich die Gesamtzahl möglicher Informanten auf einunddreißig Personen, Sekretäre und Büroangestellte eingeschlossen.
Die Aufgabe, einen Informanten aus den unvollständigen Akten von einunddreißig Kandidaten herauszufinden, war so gut wie unmöglich. Also kehrte Leamas zur Analyse des ursprünglichen Materials zurück, was er - wie er sagte - schon früher hätte tun sollen.
Es gab ihm zu denken, dass in keinem der fotografierten Protokolle die Seiten numeriert waren, dass keines den Stempel »geheim« trug und dass in der zweiten und vierten Kopie Blei- oder Farbstiftkorrekturen angebracht waren. Das brachte ihn schließlich zu einer wichtigen Schlußfolgerung: dass Fotokopien nicht von den Protokollen selbst gemacht worden waren, sondern von den Entwürfen. Wenn das so war, so mußte die Informationsquelle im Sekretariat zu suchen sein, und das Sekretariat war sehr klein. Die Entwürfe waren sehr gut und sorgfältig fotografiert worden: der Fotograf hatte also Zeit und einen eigenen Raum gehabt. Leamas nahm sich wieder das Personenverzeichnis vor. Da gab es im Sekretariat einen Mann namens Karl Riemeck, einen früheren Sanitätsunteroffizier, der als Kriegsgefangener drei Jahre in England gewesen war. Seine Schwester hatte bei Kriegsende und dem Einmarsch der Russen in Pommern gelebt, und Karl hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört. Er war verheiratet und hatte eine Tochter namens Carla.