Je öfter sie es las, desto seltsamer kam es ihr vor: die Benachrichtigung so kurz vor dem Reisetermin, und woher wußten sie, dass sie bei der Bibliothek wegkonnte? Dann fiel ihr zu ihrer eigenen Überraschung wieder ein, dass sich Ashe nach ihren Ferienplänen und danach erkundigt hatte, ob sie in diesem Jahr bereits Urlaub genommen habe, und ob sie Urlaubstermine schon immer lange im voraus anmelden müsse. Weshalb teilte man ihr nicht mit, wer die anderen Kandidaten waren? Sicherlich gab es keinen besonderen Grund, es ihr mitzuteilen. dass man es unterließ, war dennoch sonderbar. Auch war es ein so langer Brief. Bei der Zentrale gab es so wenig Schreibkräfte, dass die Briefe gewöhnlich sehr kurz gefaßt waren, wenn man die Genossen nicht einfach bat, im Sekretariat anzurufen. Dieser hier war so sauber und gut getippt, dass er gar nicht danach aussah, als komme er von der Zentrale. Aber er war vom Kulturleiter unterzeichnet. Es war seine Unterschrift, kein Zweifel daran. Sie hatte sie oft genug auf vervielfältigten Rundschreiben gesehen. Und der Brief hatte diesen ungeschickten, halb bürokratischen, halb messianischen Stil, an den sie sich gewöhnt hatte, ohne ihn freilich zu mögen. Es war eine törichte Behauptung, dass sie Erfahrungen in der Leitung von Massenaktionen besitze. Sie besaß sie nicht. In Wirklichkeit haßte sie diese Sorte von Parteiarbeit: die Lautsprecher an den Fabriktoren, den Verkauf des Daily Worker an den Straßenecken, die Lauferei von Tür zu Tür während des Wahlkampfes. Gegen die Arbeit für den Frieden hatte sie nicht soviel einzuwenden, denn das bedeutete ihr etwas, und es hatte Sinn. Wenn man auf der Straße ging, brauchte man nur die kleinen Kinder zu sehen, die Mütter mit ihren Kinderwagen, die alten Leute vor den Haustüren, und man konnte sich sagen: »Ich tue es für sie.« Das hieß wirklich für den Frieden kämpfen.
Den Kampf um Wählerstimmen und größeren Absatz der Zeitung hatte sie noch nie in dieser Weise betrachten können. Es lag vielleicht daran, dachte sie, dass es so ernüchternd war. Es war so leicht, die Welt neu aufzubauen, in der Vorhut des Sozialismus zu marschieren und von dem unvermeidlichen Lauf der Geschichte zu sprechen, wenn man zu zehnt oder so bei einem Gruppentreffen beisammensaß. Aber anschließend mußte man mit einem Arm voll Daily Worker auf die Straße gehen und ein, zwei Stunden warten, ehe eine Nummer verkauft war. Manchmal mogelte sie, ebenso wie die anderen, und zahlte für ein halbes Dutzend Zeitungen aus eigener Tasche, nur um sie loszuwerden und nach Hause zu kommen. Beim nächsten Treffen brüsteten sie sich dann mit ihren Verkaufserfolgen. Sie vergaßen einfach, dass sie die Zeitungen selbst gekauft hatten. »Genossin Gold am Samstag achtzehn verkauft - achtzehn!« Es wurde im Protokoll vermerkt und kam ins Bulletin der Gruppe. Beim Distrikt rieb man sich die Hände, und Liz wurde vielleicht auf der ersten Seite des Bulletins in der kleinen Spalte über den Kampffonds erwähnt. Es war eine so kleine Welt, und Liz wünschte, dass man hätte ehrlicher sein können. Aber sie belog sich ja auch selbst über alles. Vielleicht machten es alle so. Oder vielleicht verstanden die anderen besser, warum man soviel lügen mußte. Es war schon so merkwürdig, wie man sie zur Sekretärin der Gruppe gemacht hatte. Mulligan hatte sie vorgeschlagen: »Unsere junge, energische und außerdem attraktive Genossin …« Er hatte geglaubt, sie werde mit ihm schlafen, wenn er ihr zum Posten der Gruppensekretärin verhalf. Die anderen hatten sie dann gewählt, weil man sie gut leiden mochte, und weil sie maschineschreiben konnte. Man nahm an, sie werde die Arbeit tun und nicht versuchen, einen an den Wochenenden auf Stimmen-Werbung zu schicken. Nicht zu oft, auf jeden Fall. Man wählte sie, weil alle einen annehmbaren kleinen Klub haben wollten, nett und revolutionär, mit nicht allzuviel Wirbel. Es war alles so ein Schwindel. Alec schien das verstanden zu haben: er hatte es nicht ernst genommen. »Manche halten Kanarienvögel, andere treten der Partei bei«, hatte er einmal gesagt. Und das war die Wahrheit. Auf jeden Fall in Bayswater-Süd, und der Distrikt wußte das genau. Aus diesem Grund war es seltsam, dass man sie ausgewählt hatte, und deshalb konnte sie eigentlich nicht glauben, dass der Distrikt auch nur etwas damit zu tun haben sollte. Sicherlich war Ashe des Rätsels Lösung. Womöglich war er gar nicht schwul, sondern sah nur so aus.
Liz zuckte etwas übertrieben mit den Achseln, wie es Menschen manchmal tun, wenn sie aufgeregt und allein sind. Es war Ausland, kostenlos, und schien interessant. Sie war noch nie im Ausland, und aus eigener Tasche hätte sie die Reisekosten nicht aufbringen können. Es würde Spaß machen. Sie hatte in Bezug auf Deutschland allerdings Vorbehalte. Sie hatte oft gehört, dass Westdeutschland militaristisch und revanchistisch, Ostdeutschland aber demokratisch und friedliebend sei. Sie bezweifelte jedoch, dass alle guten Deutschen auf der einen Seite und alle schlechten auf der anderen leben sollten. Und die schlechten hatten ihren Vater umgebracht. Vielleicht war sie deshalb von der Partei ausgesucht worden, gewissermaßen als großzügiger Akt der Versöhnung. Möglicherweise hatte Ashe schon daran gedacht, als er ihr diese Fragen stellte. Natürlich - das war die Erklärung. Plötzlich durchströmte sie ein Gefühl der Wärme und Dankbarkeit. Es waren wirklich anständige Menschen, und sie war stolz und dankbar, dieser Partei angehören zu dürfen. Sie ging zum Schreibtisch und öffnete eine Schublade, wo sie in einem alten Schulranzen das Briefpapier ihrer Ortsgruppe und die Briefmarken aufbewahrte. Sie spannte ein Blatt in ihre alte Schreibmaschine, die der Distrikt geschickt hatte, weil sie tippen konnte. Die Buchstaben sprangen manchmal, aber sonst war die Maschine in Ordnung. Liz schrieb einen netten, dankbaren Brief, in dem sie die Einladung annahm. Die Zentrale war großartig: streng, wohltätig, unpersönlich, ewig. Es waren gute Menschen. Menschen, die für den Frieden kämpften. Als sie das Schubfach schloß, erblickte sie Smileys Karte.
Es fiel ihr wieder ein, wie der kleine Mann mit dem ernsten, faltigen Gesicht in der Tür ihres Zimmers gestanden und gefragt hatte: »Wußte die Partei von Ihnen und Alec?« Wie dumm sie gewesen war. Nun, diese Reise würde sie auf andere Gedanken bringen.
12 OSTWÄRTS
Leamas öffnete seinen Sicherheitsgurt.
Angeblich erleben Todeskandidaten plötzliche Zustände eines übersteigerten Glücksgefühls, vielleicht wie Motten es in der Kerzenflamme erleben: als erreichten sie durch ihre Vernichtung ein langersehntes Ziel. Nachdem Leamas sich entschieden hatte, erfüllte ihn eine Empfindung, die fast dem Gefühl der Erleichterung glich. Es währte nicht lange, gab ihm aber Trost und hielt ihn für eine Zeitlang aufrecht. Furcht und Hunger folgten darauf.
Der Chef hatte recht: Er ließ nach.
Das war ihm während des Falls Riemeck zum erstenmal am Anfang des letzten Jahres bewußt geworden. Karl hatte ihm die Nachricht zukommen lassen, dass er etwas Besonderes für ihn habe und einen seiner seltenen Besuche in Westdeutschland mache; er fahre zu einer juristischen Konferenz in Karlsruhe. Leamas war es gelungen, eine Flugkarte nach Köln zu bekommen, und er mietete dort auf dem Flugplatz einen Wagen. Es war noch ziemlich früh am Morgen, und er hatte gehofft, dem größten Teil des Autobahnverkehrs nach Karlsruhe entgehen zu können, aber die schweren Lastwagen waren schon unterwegs. In der ersten halben Stunde gelang es ihm, siebzig Kilometer hinter sich zu bringen, indem er sich waghalsig durch den Verkehr wand. Er wollte rechtzeitig in Karlsruhe sein. Plötzlich begann, nur fünfzehn Meter vor ihm, ein kleiner Wagen, wahrscheinlich ein Fiat, aus der Kolonne in die Überholspur herüberzuziehen. Leamas trat auf die Bremse, blendete voll auf und hupte. Mit Gottes Hilfe kam er noch um Bruchteile einer Sekunde an ihm vorbei. Während er den Wagen überholte, sah er gerade noch vier Kinder, die winkend und lachend auf dem Rücksitz saßen, und das dumme Gesicht ihres erschrockenen Vaters. Fluchend fuhr er weiter, und plötzlich geschah es: plötzlich zitterten seine Hände wie im Fieber, sein Gesicht glühte, sein Herz klopfte wild. Er bog auf einen Rastplatz ein. Er kletterte aus dem Wagen und starrte schwer atmend auf den vorbeidonnernden Strom riesiger Uberlandtransporter. Im Geist sah er das kleine Auto zwischen den Kolossen gefangen, die es zusammenpreßten und zerquetschten, bis nichts übrigblieb als das wilde Wimmern der Autohupen und die blauen Blitze der Polizeilichter, und die Körper der Kinder, ebenso zerfetzt wie die Leichen der ermordeten Flüchtlinge auf der Straße durch die Dünen.