»Wohin fahren wir?« fragte er Peters.
»Wir sind schon da. Die Deutsche Demokratische Republik. Für Ihre Unterkunft ist gesorgt worden.«
»Ich dachte, wir würden weiter nach Osten fahren.«
»Das werden wir auch. Zuerst bleiben wir aber einen oder zwei Tage hier. Wir waren der Ansicht, die Deutschen sollten Gelegenheit zu einer Unterredung mit Ihnen haben.«
»Ich verstehe.«
»Schließlich hat sich der Großteil Ihrer Arbeit mit Deutschland beschäftigt. Ich habe deshalb Einzelheiten Ihrer Aussage hierhergeschickt.«
»Und man wollte mich sprechen?«
»Man hat hier noch nie jemanden wie Sie gehabt, niemanden so … nahe an der Quelle. Meine Leute waren einverstanden, dass man hier die Gelegenheit haben sollte, mit Ihnen zusammenzutreffen.«
»Und dann? Wohin fahren wir von Deutschland aus?«
»Weiter nach Osten.«
»Wen von den Deutschen werde ich treffen?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Kaum. Ich kenne dem Namen nach die meisten aus der Abteilung, und es hätte mich nur so interessiert.«
»Wen würden Sie erwarten?«
»Fiedler«, antwortete Leamas prompt, »stellvertretender Leiter des Sicherheitsdienstes. Mundts Mann. Er macht alle großen Verhöre. Er ist ein Saukerl.«
»Warum?«
»Ein brutaler kleiner Saukerl. Ich habe von ihm gehört. Als er einen Agenten Peter Guillams fing, brachte er ihn fast um.«
»Spionage ist kein Kricketmatch«, bemerkte Peters mürrisch.
Danach verfielen sie wieder in Schweigen. Es ist also Fiedler, dachte Leamas.
Leamas wußte über Fiedler recht gut Bescheid. Er kannte ihn von den Fotografien im Akt und von den Berichten seiner früheren Untergebenen. Ein schlanker, adretter Mann, ziemlich jung, glattgesichtig. Dunkles Haar, große braune Augen: intelligent und brutal, wie Leamas gesagt hatte. Der geschmeidige, schnelle Körper wurde von einem geduldigen, zurückhaltenden Charakter beherrscht. Ein Mann, der scheinbar für sich selbst keinen Ehrgeiz kannte, der aber rücksichtslos in der Vernichtung anderer war. Fiedler stellte in der »Abteilung« eine Ausnahme dar, denn er beteiligte sich nicht an den dort üblichen Intrigen und schien es zufrieden zu sein, ohne Aussicht auf Beförderung im Schatten Mundts zu leben. Er konnte nicht als Mitglied dieser oder jener Clique bezeichnet werden; selbst einstige Mitarbeiter von ihm konnten nicht sagen, wo er seinen Standort innerhalb des Machtgefüges der »Abteilung« hatte. Fiedler war ein Einzelgänger - gefürchtet, unbeliebt und beargwöhnt. Welche Motive er auch haben mochte, er verbarg sie unter einem Mantel von zersetzendem Sarkasmus.
»Fiedler ist unser bestes Pferd«, hatte der Chef erklärt, als er mit Leamas und Peter Guillam in dem düsteren kleinen »Siebenzwergehaus« in Surrey beim Abendessen saß. Dort lebte der Chef mit seiner zierlichen Frau inmitten geschnitzter indischer Tischchen mit Messingplatten.
»Fiedler ist der Ministrant, der seinem Priester eines Tages das Messer in den Rücken stoßen wird. Er ist der einzige Mann, der Mundt gewachsen ist« - hier hatte Guillam genickt -, »und er haßt ihn aus tiefster Seele. Fiedler ist natürlich Jude, und Mundt ziemlich das Gegenteil. Ein denkbar schlechtes Gespann. Unsere Aufgabe war es«, erklärte er mit einem Hinweis auf Guillam und sich selbst, »dass wir Fiedler die Waffe gaben, mit der er Mundt vernichten kann. Ihre Arbeit, mein lieber Leamas, ist es nun, ihn zum Gebrauch dieser Waffe zu ermutigen. Selbstverständlich nur indirekt, weil Sie ihm nie begegnen werden. Wenigstens hoffe ich das.«
Darüber hatten sie alle gelacht, auch Guillam. Es schien damals ein guter Witz zu sein; jedenfalls gut in den Augen des Chefs.
Es mußte schon nach Mitternacht sein. Sie waren längere Zeit auf einer Schotterstraße gefahren, die zum Teil durch einen Wald und zum Teil durch offenes Gelände führte. Nun hielten sie, und einen Augenblick später war der DKW neben ihnen. Als er und Peters ausstiegen, bemerkte Leamas, dass jetzt drei Leute im zweiten Wagen saßen. Zwei von ihnen waren gerade im Begriff auszusteigen. Der dritte saß auf dem Rücksitz und sah beim Licht der Deckenlampe einige Papiere durch - eine kleine Figur; die vom Schatten halb verdeckt war.
Sie hatten in der Nähe einiger unbenutzter Ställe geparkt; das Gebäude lag zehn Meter weiter hinten. Im Scheinwerferlicht des Wagens konnte Leamas ungenau ein niedriges Bauernhaus mit Fachwerk und weißgekalkten Wänden ausnehmen. Sie stiegen aus. Der Mond war herausgekommen und schien so hell, dass sich die bewaldeten Hügel scharf gegen den blassen Nachthimmel abzeichneten. Sie gingen zum Haus, voran Peters und Leamas, während ihnen die beiden Männer folgten. Der Mann im zweiten Wagen hatte noch immer keine Anstalten gemacht auszusteigen; er blieb im Wagen und las.
An der Haustür mußten Peters und Leamas auf die herankommenden Männer warten, von denen einer einen Schlüsselbund in seiner linken Hand hielt. Während er mit den Schlüsseln hantierte, stand der andere mit den Händen in den Taschen im Hintergrund und gab ihm Deckung.
»Sie gehen kein Risiko ein«, bemerkte Leamas zu Peters. »Was denken sie, wer ich bin?«
»Sie werden nicht bezahlt, um zu denken«, erwiderte Peters. Er wandte sich an einen von ihnen und fragte auf deutsch: »Kommt er?«
Der Deutsche zuckte mit den Schultern und schaute zu den Wagen hinunter. »Er wird schon kommen«, sagte er. »Er kommt gern allein.«
Sie gingen ins Haus, der Mann führte sie. Es war wie ein Jagdhaus eingerichtet, teils alt, teils neu. Die matte Deckenbeleuchtung gab nur wenig Licht. Die Luft im Haus war muffig, so als sei es unbewohnt und nur für ihren Besuch geöffnet worden. Da und dort gab es Spuren behördlicher Verwaltung: eine Tafel mit Anweisungen für das Verhalten bei Brandgefahr, die amtliche grüne Farbe auf den Türen und schwere automatische Türschließer. In dem ganz bequem eingerichteten Wohnzimmer standen dunkle, schwere, sehr zerkratzte Möbel und die unvermeidlichen Fotografien sowjetischer Führer. Diese aus der Anonymität kommenden Eingriffe in die Atmosphäre des Hauses zeigten Leamas, wie sehr die Arbeit der »Abteilung« auch dort, wo es nicht gewollt war, vom Geist der Bürokratie durchdrungen wurde. Diese Erscheinung war Leamas schon vom Rondell her vertraut.
Peters setzte sich, und Leamas folgte seinem Beispiel. Sie warteten zehn Minuten, dann wandte sich Peters an einen der zwei Männer, die gelangweilt am anderen Ende des Raumes standen.
»Gehen Sie und sagen Sie ihm, dass wir warten. Und beschaffen Sie uns etwas zu essen, wir sind hungrig.« Als der Mann zur Tür ging, rief Peters: »Und Whisky - sagen Sie ihnen, dass sie Whisky und einige Gläser bringen sollen.« Der Mann zuckte wenig entgegenkommend mit den Achseln und ging hinaus, indem er die Tür hinter sich offenließ.
»Sind Sie schon einmal hier gewesen?« fragte Leamas.
»Ja«, sagte Peters.
»Wozu?«
»Ähnliche Unternehmungen, nicht dasselbe, aber unsere Art Arbeit eben.«
»Mit Fiedler?«
»Ja.«
»Ist er gut?«
»Für einen Juden ist er nicht schlecht«, antwortete Peters, während sich Leamas, der am anderen Ende des Raumes ein Geräusch gehört hatte, umwandte und Fiedler dort in der Tür stehen sah. In der einen Hand hielt er eine Flasche Whisky, in der anderen Gläser und eine Flasche Mineralwasser. Er konnte nicht größer als ein Meter siebzig sein. Er trug einen dunkelblauen Einreiher; die Jacke war zu lang geschnitten. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Raubtieres, er hatte leuchtende braune Augen. Er schaute nicht sie an, sondern den Wachtposten neben der Tür.
»Gehen Sie«, sagte er. Er hatte einen leicht sächsischen Tonfall. »Gehen Sie und sagen Sie dem anderen, er soll uns etwas zu essen bringen.«
»Ich habe es ihm schon gesagt«, rief Peters. »Sie wissen es bereits. Aber sie haben nichts gebracht.«
»Sie sind große Snobs«, bemerkte Fiedler trocken auf englisch, »sie meinen, wir sollten uns das Essen von Dienern servieren lassen.«