»Aber womit rechtfertigen sie dann ihre Arbeit? Womit? Für uns ist das leicht. Das habe ich Ihnen schon letzte Nacht erklärt. Die ›Abteilung‹ und ähnliche Organisationen sind der verlängerte Arm der Partei, sozusagen die Vorhut im Kampf für Frieden und Fortschritt. Sie haben für die Partei die gleiche Bedeutung, die die Partei für den Sozialismus hat: sie sind die Vorhut.« Fiedler lächelte trocken: »Stalin hat einmal gesagt - es ist nicht modern, Stalin zu zitieren -, aber Stalin hat einmal gesagt, eine halbe Million Liquidierte seien Statistik, während ein einzelner Mensch, der bei einem Verkehrsunfall getötet wird, eine nationale Tragödie darstellt. Er lachte über die bürgerliche Gefühlsduselei der Masse, verstehen Sie? Er war ein großer Zyniker. Aber das, was er damit ausdrücken wollte, gilt noch immer:
Eine Bewegung, die sich vor der Gegenrevolution zu schützen hat, kann es sich kaum leisten, auf die Ausnutzung oder sogar auf die Vernichtung einiger Einzelwesen zu verzichten. All dies ist ein großer Zusammenhang. Wir haben nie behauptet, dass es bei dem Prozeß der vernünftigen Umgestaltung der Gesellschaft völlig gerecht zugeht. Aber hat nicht irgendein Römer in der Bibel gesagt, es sei der Tod eines einzelnen angebracht, wenn er dem Wohl vieler dient?«
»Ich nehme es an«, sagte Leamas müde.
»Also, wie denken Sie, was ist Ihre Philosophie?«
»Ich glaube, dass ihr alle miteinander Saukerle seid«, sagte Leamas wütend.
Fiedler nickte. »Das ist ein Standpunkt, den ich verstehe. Er ist primitiv, negativ und sehr dumm - aber es ist ein Standpunkt. Er existiert. Aber wie steht's mit dem Rest des Rondells?«
»Ich weiß nicht. Wie sollte ich auch?«
»Haben Sie mit Ihren Kollegen nie über Weltanschauung diskutiert?«
»Nein. Wir sind keine Deutschen.« Er zögerte und fügte dann unbestimmt hinzu: »Den Kommunismus lehnen sie, glaube ich, ab.«
»Und damit rechtfertigt man beispielsweise die Opferung menschlichen Lebens? Das rechtfertigt die Bombe im überfüllten Lokal, die Verlustrate eurer Agenten - all das wird dadurch gerechtfertigt?«
Leamas zuckte die Achseln. »Ich nehme es an.«
»Für uns sind diese Dinge gerechtfertigt«, fuhr Fiedler fort. »Ich selbst hätte in einem Lokal eine Bombe gelegt, wenn uns das auf unserem Weg vorangebracht hätte. Ich würde nachher die Bilanz ziehen: so viele Frauen, so viele Kinder - aber auch so und so viel auf unserem Weg weiter. Aber Christen dürfen diese Bilanz nicht ziehen - und Ihre Gesellschaftsordnung ist eine christliche.«
»Warum nicht? Sie müssen sich verteidigen, oder?«
»Aber Christen glauben an die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens. Sie glauben, dass jeder Mensch eine Seele hat, die gerettet werden kann. Sie glauben an Opfer.«
»Ich weiß nicht«, sagte Leamas. »Ich scher' mich nicht viel drum.« Und dann: »Stalin tat es auch nicht, oder?«
Fiedler lächelte. »Ich mag die Engländer«, sagte er, als spräche er zu sich selbst. »Mein Vater schätzte sie auch. Er mochte die Engländer sehr gern.«
»Davon wird mir ganz warm ums Herz«, erwiderte Leamas. Er versank in Schweigen.
Sie blieben stehen, während Fiedler Leamas eine Zigarette und Feuer gab.
Es ging jetzt steil bergan. Leamas tat die körperliche Bewegung wohl, und er ging mit langen Schritten und vorgebeugten Schultern voran. Fiedler folgte ihm. Er war hager und behende und wirkte wie ein Terrier, der hinter seinem Herrn herläuft. Sie waren vielleicht eine Stunde oder etwas mehr gegangen, als sich plötzlich die Bäume über ihnen lichteten und der Himmel zum Vorschein kam. Sie hatten die Spitze eines kleinen Hügels erreicht und konnten auf die dichte Masse der Kiefern hinuntersehen, zwischen denen nur vereinzelte Buchenwipfel als graue Flecken hervorleuchteten. Jenseits des Tales entdeckte Leamas plötzlich dicht unter dem Kamm des gegenüberliegenden Hügels das Jagdhaus, flach und dunkel lag es vor den Bäumen. In der Mitte der Lichtung stand eine rohgezimmerte Bank neben einem Stapel von Baumstämmen und den feuchten Überresten eines Holzfeuers.
»Wir werden uns einen Moment hinsetzen«, sagte Fiedler. »Dann müssen wir zurückgehen.« Er machte eine Pause. »Sagen Sie: Was haben Sie eigentlich gedacht, für welchen Zweck dieses Geld, die großen Summen in ausländischen Banken, gezahlt worden ist?«
»Na, was glauben Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass diese Zahlungen für einen Agenten waren.«
»Für einen Agenten hinter dem Eisernen Vorhang?«
»Ja, das dachte ich«, antwortete Leamas gereizt.
»Wie kamen Sie darauf?«
»Erstens war es sehr viel Geld. Dann die verwickelte Art, in der man ihn bezahlte, die besondere Vorsicht dabei. Und natürlich, weil der Chef in allem mit drin war.«
»Was hat der Agent Ihrer Ansicht nach mit dem Geld gemacht?«
»Schauen Sie, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich weiß ja nicht einmal, ob er es abgeholt hat. Ich hatte überhaupt keinen Einblick - ich war doch nur ein lausiger Botenjunge.«
»Was machten Sie mit den Kontoheften für die Depositenkonten?«
»Die habe ich nach meiner Rückkehr in London abgeliefert, zusammen mit meinem falschen Paß.«
»Haben die Banken in Kopenhagen und Helsinki jemals nach London an Sie geschrieben - unter Ihrem Decknamen, meine ich?«
»Ich weiß nicht. Ich nehme an, dass auf jeden Fall alle Briefe direkt beim Chef gelandet wären.«
»Die von Ihnen bei der Eröffnung der Konten geleisteten falschen Unterschriften - hatte der Chef ein Muster davon?«
»Ja. Zur Übung hatte ich eine ganze Menge Unterschriften angefertigt, und sie hatten sich Muster davon aufgehoben.«
»Mehr als eins?«
»Ja. Ganze Seiten voll.«
»Ich verstehe. Nachdem Sie die Konten eröffnet hatten, konnte man jederzeit Briefe an die Banken schicken, ohne dass Sie davon hätten wissen müssen. Man konnte die Unterschriften nachmachen und die Briefe ohne Ihr Wissen verschicken.«
»Ja, das ist richtig. Ich nehme an, dass man es so machte. Ich unterschrieb auch viele leere Briefbögen. Ich war immer der Meinung, dass ein anderer die Korrespondenz erledigte.«
»Aber tatsächlich gewußt haben Sie nie etwas von solcher Korrespondenz?«
Leamas schüttelte den Kopf. »Sie haben das alles noch nicht richtig begriffen«, sagte er, »Sie sehen diese Sachen nicht im richtigen Größenverhältnis zueinander. Wir hatten doch mit ungeheuer viel Papierkram zu tun, und diese Angelegenheit war nicht mehr als ein kleiner Teil der täglichen Arbeit. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Warum sollte ich auch? Es war zwar Geheimsache, aber mein ganzes Leben hatte ich mit Dingen zu tun, von denen ich nur einen kleinen Teil wußte, während irgendein anderer den Rest kannte. Außerdem langweilt mich Papierkram. Deshalb habe ich bestimmt keinen Schlaf verloren. Natürlich ging ich gern auf diese Reisen - bekam Extraspesen, was angenehm war. Aber deshalb dachte ich doch nicht den ganzen Tag über ›Rollstein‹ nach, wenn ich an meinem Schreibtisch saß. Und außerdem«, fügte er etwas verlegen hinzu, »fing ich damals etwas zu trinken an.«
»So sagten Sie«, bemerkte Fiedler, »und natürlich glaube ich Ihnen.«
»Das ist mir ganz egal, ob Sie mir glauben oder nicht«, gab Leamas aufgebracht zurück.
Fiedler lächelte. »Gott sei Dank«, sagte er. »Das ist ja gerade das Gute an Ihnen. Das Gute ist Ihre Gleichgültigkeit. Sie sind einmal ein bißchen wütend, einmal ein bißchen hochmütig, aber das macht nichts. Das verändert das Bild nicht mehr, als eine Stimme durchs Tonband verzerrt wird. Sie sind objektiv.« Fiedler fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Es kam mir der Gedanke, dass wir mit Ihrer Hilfe immer noch feststellen könnten, ob jemals von diesem Geld abgehoben worden ist. Es kann Sie nichts daran hindern, den Banken zu schreiben und sie um eine laufende Abrechnung zu bitten. Wir könnten schreiben, dass Sie in der Schweiz seien, und eine dortige Adresse angeben. Sehen Sie irgendeine Schwierigkeit dabei?«
»Es könnte funktionieren. Es hängt davon ab, ob der Chef unter meinem Decknamen schon mit der Bank korrespondiert hat. Mein Brief könnte in diese Korrespondenz nicht hineinpassen.«