»Ich sehe nicht, was wir dabei zu verlieren hätten.«
»Was haben Sie zu gewinnen?«
»Wenn das Geld abgehoben worden ist - was natürlich nicht feststeht -, könnten wir dadurch erfahren, wo sich der Agent an einem bestimmten Tag aufgehalten hat. Mir erscheint es nicht unwichtig, das zu wissen.«
»Sie träumen ja! Mit solchen Hinweisen werden Sie ihn niemals finden. Wenn er einmal irgendwo im Westen ist, kann er auf jedes Konsulat gehen und sich ein Visum für ein anderes Land holen. Was haben Sie also davon, wenn Sie wissen, wann das Geld abgehoben wurde? Sie wissen doch nicht einmal, ob der Mann Ostdeutscher ist. Was soll das also?«
Fiedler antwortete nicht sofort. Er starrte zerstreut über das Tal hinweg.
»Sie sagten, Sie seien es gewohnt, immer nur einen Teil zu wissen. Ich kann Ihre Frage jetzt nicht beantworten, ohne dass ich Ihnen dabei etwas sage, was Sie nicht wissen sollen.« Er zögerte. »Aber ›Rollstein‹ war eine Operation gegen uns, das kann ich Ihnen versichern.«
»Uns?«
»Die Deutsche Demokratische Republik.« Er lächelte: »Die Zone, wenn Ihnen das lieber ist. So empfindlich bin ich da nicht.«
Jetzt beobachtete er Leamas und ließ seine braunen Augen nachdenklich auf ihm ruhen.
»Aber was ist mit mir?« fragte Leamas. »Angenommen, ich schreibe die Briefe nicht?« Seine Stimme hob sich. »Ist es nicht Zeit, über mich zu sprechen?«
Fiedler nickte.
»Warum nicht?« erwiderte er verbindlich.
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Leamas: »Ich habe mein Teil getan, Fiedler, Sie und Peters haben alles bekommen, was ich weiß. Ich habe nie zugesagt, Briefe an Banken zu schreiben. So etwas könnte sehr gefährlich werden. Ich weiß, das ist Ihnen egal. Wenn's nach Ihnen geht, kann man mich schon abschreiben.«
»Lassen Sie mich offen sein«, entgegnete Fiedler. »Es gibt, wie Sie wissen, in der Befragung jedes Überläufers zwei Etappen. In Ihrem Fall ist die erste beinahe abgeschlossen. Sie haben uns alles gesagt, was wir nach den Maßstäben der Vernunft gebrauchen können. Sie haben uns aber nicht gesagt, ob Ihr Geheimdienst beispielsweise Nadeln oder Papierklammern verwendet - Sie haben es nicht erzählt, weil ich Sie nicht danach gefragt habe, und weil Sie es für zu unwichtig hielten, um es von sich aus zu sagen. Beide Seiten treffen eben eine unbewußte Auswahl. Es ist nun immer möglich - und das beunruhigt mich, Leamas -, dass wir in ein oder zwei Monaten plötzlich aus irgendeinem unvorhergesehenen und sehr wichtigen Grund über Nadeln und Klammern Bescheid wissen müssen. Diesem Umstand wird normalerweise in der zweiten Etappe Rechnung getragen - in jenem Teil des Abkommens, den Sie in Holland nicht akzeptieren wollten.«
»Sie meinen - Sie werden mich auf Eis legen?«
»Der Beruf eines Verräters«, bemerkte Fiedler mit einem Lädieln, »erfordert große Geduld. Sehr wenige sind dafür geeignet.«
»Wie lange?« fragte Leamas hartnäckig.
Fiedler schwieg.
»Nun?«
Als Fiedler zu sprechen begann, nahm seine Stimme plötzlich einen dringlichen Unterton an: »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihnen die Antwort auf Ihre Frage geben werde, sobald es mir möglich ist. Sehen Sie, ich könnte Sie leicht belügen, oder nicht? Ich könnte sagen, es werde einen Monat oder noch weniger dauern, nur um Sie in Stimmung zu halten. Aber ich sage Ihnen: ich weiß es nicht, denn das ist die Wahrheit. Sie haben uns einige Hinweise gegeben, und ehe wir denen nicht nachgegangen sind, kann ich nicht daran denken, Sie laufenzulassen. Aber wenn die Dinge wirklich so liegen, wie ich es glaube, dann werden Sie später einen Freund brauchen. Und dieser Freund werde ich sein. Ich gebe Ihnen mein Wort als Deutscher.«
Leamas war so verblüfft, dass er einen Augenblick schwieg.
»Gut«, sagte er schließlich, »ich spiele mit, Fiedler. Aber wenn Sie mich hinhalten, dann werde ich Ihnen irgendwie das Genick brechen.«
»Das wird wohl nicht nötig sein«, sagte Fiedler ruhig.
Ein Mann, der nicht nur anderen, sondern auch sich selbst eine Rolle vorlebt, ist offensichtlich psychologischen Gefahren ausgesetzt. An sich stellt die Tätigkeit des Täuschens keine übermäßigen Anforderungen an den Menschen. Es ist eine Frage der Erfahrung, des beruflichen Könnens, es ist eine Fähigkeit, die sich die meisten von uns aneignen können. Aber während ein Betrüger, ein Schauspieler oder ein Hasardeur nach seiner Vorstellung in die Reihen seiner Bewunderer zurücktreten kann, hat der Geheimagent keine Möglichkeit, sich diese Erleichterung zu verschaffen. Für ihn ist die Täuschung anderer in erster Linie eine Frage der Selbsterhaltung. Für ihn genügt es nicht, sich nur nach außen abzuschirmen, er muß sich auch vor seinem eigenen Inneren schützen, und zwar gegen die natürlichsten Impulse. Obwohl er vielleicht ein Vermögen verdient, kann es durchaus sein, dass ihm seine Rolle den Kauf eines Rasiermessers verbietet. Obwohl er gebildet sein mag, darf er möglicherweise nichts als Banalitäten murmeln. Sei er ein liebevoller Gatte und Vater: er muß sich unter allen Umständen gerade von jenen abkapseln, denen natürlicherweise sein Vertrauen gehört.
Da sich Leamas durchaus der fast unwiderstehlichen Versuchungen bewußt war, denen ein Mann angesichts der Tatsache ausgesetzt ist, dass er unter der Maske ständig allein mit seiner Lüge leben muß, nahm er zu einem Verhalten Zuflucht, das ihm den besten Schutz bot; er zwang sich, die Rolle der vorgetäuschten Persönlichkeit auch dann beizubehalten, wenn er allein war. Angeblich hat sich Balzac auf seinem Totenbett besorgt nach Gesundheit und Wohlergehen der von ihm selbst geschaffenen Figuren erkundigt. In ähnlicher Weise identifizierte sich Leamas, ohne auf Erfindungskraft zu verzichten, mit dem, was er erfunden hatte. Die Eigenarten, die er vor Fiedler entfaltete, seine rastlose Unberechenbarkeit, seine Arroganz, hinter der er das schlechte Gewissen zu verbergen trachtete, waren seinen eigenen, ursprünglichen Eigenschaften nicht etwa nur angenähert, sondern aus ihnen heraus durch eine gewisse Übertreibung entwickelt, also auch das leichte Schlurfen der Füße, die Vernachlässigung seiner äußeren Erscheinung, die Gleichgültigkeit, die er dem Essen gegenüber zeigte, und sein steigendes Bedürfnis nach Alkohol und Tabak. Auch wenn er allein war, blieb er diesen Gewohnheiten treu. Er pflegte sie dann sogar etwas zu übertreiben und er hielt Selbstgespräche über die Ungerechtigkeit, mit der ihn sein Geheimdienst behandelt habe.
Nur sehr selten, wie jetzt an diesem Abend, gestattete er sich während des Zubettgehens den gefährlichen Luxus, die große Lüge, die er lebte, vor sich selbst einzugestehen.
Der Chef hatte in erstaunlicher Weise recht gehabt. Fiedler stolperte mit schlafwandlerischer Sicherheit in das Netz, das ihm der Chef gelegt hatte. Es war unheimlich, die wachsende Gleichartigkeit der Interessen zwischen Fiedler und dem Chef zu beobachten: fast schien es, als hätten sie sich auf ein gemeinsames Vorhaben geeinigt und als sei Leamas zu seiner Durchführung ausgeschickt worden.
Vielleicht war das die Antwort. Vielleicht war Fiedler die geheime Informationsquelle, um deren Erhaltung der Chef so verzweifelt bemüht war. Aber Leamas vermied es, über diese Möglichkeit weiter nachzudenken. Er wollte es nicht wissen. In dieser Beziehung war er alles andere als neugierig. Er wußte, dass keinerlei Vorteil aus seinen möglichen Schlußfolgerungen erwachsen konnte. Trotzdem hoffte er zu Gott, dass es wahr sei. Es war möglich, gerade in diesem Fall war es möglich, dass er noch einmal nach Hause kommen könnte.
14 BRIEF AN EINEN KUNDEN
Am nächsten Morgen war Leamas noch im Bett, als ihm Fiedler die Briefe zur Unterschrift brachte. Der eine war auf dem dünnen blauen Schreibpapier des Seiler-Hotels Alpenblick, Spiezersee, Schweiz, geschrieben, der andere auf Papier mit dem Briefkopf des Palace-Hotels in Gstaad. Leamas las den ersten Brief: