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Leamas erwiderte nichts, nickte McCall zu und bestieg den Lift ohne Passierschein.

Der Chef schüttelte ihm die Hand, mit der vorsichtigen Geste eines Arztes, der die Knochen betastet.

»Sie müssen schrecklich müde sein«, sagte er entschuldigend. »Nehmen Sie doch Platz.« Die gleiche langweilige Stimme. Derselbe überhebliche Ton.

Leamas setzte sich in einen Sessel, der einem olivgrünen Ofen gegenüberstand, auf dem eine Schale Wasser balancierte.

»Finden Sie es kalt?« fragte der Chef. Er beugte sich, seine Hände reibend, über den elektrischen Ofen. Er trug eine schäbige braune Strickweste unter seiner schwarzen Jacke. Leamas erinnerte sich nun an die Frau des Chefs, eine dumme kleine Person namens Mandy, die anscheinend glaubte, ihr Mann sitze in der Kohlenbehörde. Leamas nahm an, sie habe die Weste gestrickt.

»Es ist so trocken, das ist der Haken«, fuhr der Chef fort. »Vertreibe die Kälte, und du versengst die Luft; das ist genauso gefährlich.«

Er ging zum Schreibtisch und drückte einen Knopf. »Wir wollen versuchen, etwas Kaffee zu bekommen«, sagte er. »Ginnie hat Urlaub, das ist Pech. Man hat mir irgendein neues Mädchen gegeben. Wirklich zu dumm.«

Er war kleiner, als ihn Leamas in Erinnerung hatte, aber sonst war er derselbe geblieben. Dieselbe affektierte Art, Abstand zu wahren, dieselbe steife Überheblichkeit, dieselbe Angst vor der Zugluft. Er war auf eine Weise höflich, die Leamas' Wesen völlig fremd war. Er hatte dasselbe nichtssagende Lächeln wie immer, die gleiche Geziertheit, und er klammerte sich noch immer um Entschuldigung bittend an einer Etikette fest, die er doch angeblich so lächerlich fand. Er schwatzte dasselbe abgedroschene Zeug.

Er holte eine Packung Zigaretten vom Schreibtisch und bot Leamas eine an.

»Sie werden feststellen, dass diese hier teurer sind«, sagte er, und Leamas nickte pflichtbewußt. Der Chef steckte die Zigaretten in seine Tasche und setzte sich. Es entstand eine Pause; schließlich sagte Leamas: »Riemeck ist tot.«

»Tatsächlich«, bemerkte der Chef, als ob Leamas eine sehr treffende Bemerkung gemacht hätte. »Es ist sehr bedauerlich, außerordentlich … Ich nehme an, das Mädchen ließ ihn hochgehen - Elvira?«

»So wird es wohl sein.« Leamas würde ihn nicht fragen, woher er das Wissen über Elvira hatte.

»Und Mundt ließ ihn erschießen?«

»Ja.«

Der Chef stand auf und schlenderte auf der Suche nach einem Aschenbecher durchs Zimmer. Er fand einen und stellte ihn unbeholfen zwischen ihren Stühlen auf den Boden. »Was haben Sie empfunden? Als Riemeck erschossen wurde, meine ich. Sie beobachteten es, nicht wahr?«

Leamas zuckte mit den Achseln. »Ich war verdammt ärgerlich«, sagte er.

Der Chef legte den Kopf auf die Seite und schloß halb die Augen. »Sie haben sicher mehr als das empfunden? Sie waren gewiß aus der Fassung gebracht? Das wäre nur natürlich.«

»Ich war aus der Fassung gebracht. Wer würde das nicht sein?«

»Mochten Sie Riemeck als Mensch?«

»Ich glaube ja«, sagte Leamas hilflos. Dann fügte er hinzu: »Es hat nicht viel Sinn, sich mit diesen Dingen zu befassen.«

»Wie verbrachten Sie die Nacht oder was davon übrigblieb, nachdem Riemeck erschossen worden war?«

»Hören Sie, was soll das?« fragte Leamas aufgebracht, »worauf wollen Sie hinaus?«

»Riemeck war der letzte«, überlegte der Chef, »der letzte in einer Reihe von Todesfällen. Wenn ich mich recht erinnere, begann es mit dem Mädchen, das sie am Wedding erschossen, außerhalb des Kinos. Dann kamen der Mann in Dresden und die Verhaftungen in Jena. Wie die zehn kleinen Negerlein. Jetzt Paul, Viereck und Landser - alle tot. Und schließlich Riemeck.« Er lächelte abweisend. »Das ist ein ziemlich hoher Verschleiß. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie nicht vielleicht genug hätten.«

»Was meinen Sie - genug?«

»Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht müde geworden sind. Ausgebrannt?«

Es entstand ein langes Schweigen.

»Das müssen Sie beurteilen«, sagte Leamas schließlich.

»Wir müssen ohne Gefühl leben, ist es nicht so? Das ist freilich unmöglich. Wir spielen es uns gegenseitig vor, all diese Härte. Aber so sind wir in Wirklichkeit gar nicht. Ich meine, man kann nicht die ganze Zeit draußen in der Kälte sein; man muß auch einmal aus der Kälte hereinkommen … verstehen Sie, was ich meine?«

Leamas verstand. Er sah die lange Straße außerhalb Rotterdams, die lange, gerade Straße neben den Dünen, und den Strom von Flüchtlingen, der sich dort bewegte. Er sah - noch weit entfernt - das kleine Flugzeug, sah die Prozession anhalten und zu ihm hinaufschauen und dann das Flugzeug elegant über die Dünen einschwenken, er sah das Chaos, die nackte Hölle, als die Bomben auf die Straße schlugen.

»Ich kann darüber nicht reden, Chef«, sagte Leamas schließlich. »Was haben Sie mit mir vor?«

»Ich möchte, dass Sie noch etwas länger in der Kälte aushalten.« Leamas sagte nichts, deshalb fuhr der Chef fort: »Die Ethik unserer Arbeit, wie ich sie verstehe, basiert auf einer einzigen Voraussetzung: dass wir nie die Angreifer sein werden. Glauben Sie, dass das in Ordnung ist?«

Leamas nickte. Alles war gut, wenn er dabei das Sprechen vermeiden konnte.

»Auf diese Weise tun wir unangenehme Dinge, aber wir sind in der Verteidigung. Das, glaube ich, ist noch recht. Wir tun unangenehme Dinge, damit hier und anderswo gewöhnliche Menschen nachts sicher in ihren Betten schlafen können. Ist das zu romantisch? Freilich, gelegentlich tun wir sehr böse Dinge«, er grinste wie ein Schuljunge. »Und indem wir die moralischen Aspekte gegeneinander aufwiegen, lassen wir uns auf unehrliche Vergleiche ein; man kann schließlich nicht die Ideale der einen Seite mit den Methoden der anderen in Vergleich setzen, geben Sie mir recht?«

Leamas fühlte sich verloren. Er hatte gehört, dass der Mann eine Menge faselte, bevor er das Messer einstieß, aber er hatte nie zuvor etwas wie dies hier gehört.

»Ich meine, man muß Methode mit Methode vergleichen, und Ideal mit Ideal. Ich möchte sagen, dass sich unsere Methoden seit dem Krieg weitgehend denen des Gegners angeglichen haben. Ich meine, wir sollten nicht rücksichtsvoller als der Gegner sein, wenn es dafür keinen anderen Grund gibt als den, dass die Politik der eigenen Regierung ehrlicher ist. So ist es doch, oder?« Er lachte vor sich hin. »Das würde nie genügen«, sagte er.

Himmel, dachte Leamas, das ist, als arbeite man für einen verdammten Pfarrer. Worauf will er hinaus?

»Darum«, fuhr der Chef fort, »meine ich, wir sollten versuchen, Mundt loszuwerden … Oh, wirklich«, sagte er, sich nervös nach der Tür umwendend, »wo bleibt dieser elende Kaffee?«

Der Chef ging zur Tür hinüber, öffnete sie und sprach zu einem im Vorzimmer unsichtbar bleibenden Mädchen. Als er zurückkehrte, sagte er: »Ich denke wirklich, wir sollten ihn loswerden, wenn sich das bewerkstelligen ließe.«

»Warum? Es bleibt uns nichts in Ostdeutschland, überhaupt nichts. Sie sagten gerade selbst - Riemeck war der letzte. Es bleibt uns nichts zu beschützen.«

Der Chef setzte sich und schaute eine Weile seine Hände an.

»Das stimmt nicht ganz«, sagte er schließlich, »aber ich glaube nicht, dass ich Sie mit Einzelheiten zu langweilen brauche.«

Leamas zuckte die Achseln.

»Sagen Sie«, fuhr der Chef fort, »haben Sie genug von der Spionage? - Entschuldigen Sie, wenn ich die Frage wiederhole. Aber ich glaube, dass wir dieses Phänomen verstehen, wissen Sie? Wie Flugzeugkonstrukteure … die Bezeichnung ist dafür wohl Metallermüdung. Sagen Sie's mir doch, wenn es bei Ihnen so ist.«

Leamas erinnerte sich daran, wie er an diesem Morgen nach Hause geflogen war, und er machte sich seine Gedanken.

»Wenn es so wäre«, fügte der Chef hinzu, »müßten wir einen anderen Weg finden, uns mit Mundt auseinanderzusetzen. Was mir vorschwebt, ist ein wenig ungewöhnlich.«

Das Mädchen kam mit dem Kaffee herein. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und schenkte zwei Tassen ein. Der Chef wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte.