Etwas vor dem Tisch, aber durch seine ganze Länge voneinander getrennt, saßen sich auf Stühlen zwei Männer gegenüber. Der eine war mittleren Alters, vielleicht sechzig, und trug einen schwarzen Anzug mit grauem Schlips, jene Art Kleidung, wie sie in deutschen Dörfern zum Kirchgang getragen wird. Der andere war Fiedler.
Leamas saß zwischen zwei Wächtern an der Rückwand des Raumes. Zwischen den Köpfen der Zuschauer hindurch konnte er Mundt sehen, der ebenfalls von Polizei umgeben war. Sein blondes Haar war sehr kurz geschnitten, und seine breiten Schultern steckten unter dem vertrauten Tuch eines Häftlingsanzuges.
Es schien Leamas ein bezeichnender Hinweis auf die Einstellung des Gerichtes - oder auf den Einfluß Fiedlers - zu sein, dass er selbst Zivilkleidung tragen durfte, während Mundt in der Gefangenenkluft dasaß.
Leamas saß noch nicht lange auf seinem Platz, als der Vorsitzende des Tribunals, der den Mittelplatz am Tisch einnahm, seine Glocke läutete. Dieser Klang lenkte den Blick von Leamas auf den Vorsitzenden, und ein Schauer lief ihm über die Haut, als er nun bemerkte, dass es eine Frau war. Es war verständlich, dass er dies nicht schon früher bemerkt hatte, denn sie war um die Fünfzig, mit kleinen Augen, und ihr dunkles Haar war männlich kurz geschnitten, während ihre Kleidung aus jener Art schwarzem Waffenrock bestand, den manche Sowjetfrauen bevorzugen. Sie ließ einen scharfen Blick durch den Raum schweifen, bedeutete dann einem Posten durch Kopfnicken, die Tür zu schließen, und wandte sich sofort, ohne weiteres Zeremoniell, an die Versammelten:
»Sie alle wissen, warum wir hier sind. Das Verfahren ist geheim, beachten Sie das. Dies ist ein Gericht, das vom Präsidium einberufen wurde, und allein dem Präsidium sind wir verantwortlich. Wir werden die Beweise würdigen, wie wir es für richtig halten.« Sie zeigte mit einer Routinebewegung ihrer Hand auf Fiedler: »Genosse Fiedler, es ist am besten, wenn Sie beginnen.«
Fiedler stand auf. Während er sich kurz zum Tisch hin verbeugte, zog er aus seiner Aktentasche einen Stoß Papiere, der von einem Stück schwarzer Schnur zusammengehalten wurde.
Er sprach ruhig und mühelos, mit einer Zurückhaltung, wie Leamas sie an ihm vorher noch nicht wahrgenommen hatte. Leamas empfand es als eine große Leistung, wie sich Fiedler der Rolle eines Mannes anpaßte, der mit Bedauern einen Vorgesetzten hängt.
»Falls Sie nicht bereits darüber informiert sind, möchte ich Sie zunächst darauf hinweisen«, begann Fiedler, »dass ich an demselben Tag, an dem das Präsidium meinen Bericht über die Umtriebe des Genossen Mundt erhielt, zusammen mit dem Informanten Leamas verhaftet worden bin. Wir wurden beide eingesperrt und - nun, sagen wir - aufgefordert, und zwar unter äußerstem Druck, ein Geständnis darüber abzulegen, dass die in meinem Bericht erhobene schreckliche Anklage nichts anderes als ein faschistisches Komplott gegen einen treuen Genossen sei.
Sie können aus dem vorliegenden Bericht ersehen, auf welche Weise wir auf Leamas aufmerksam geworden sind: Wir selbst haben ihn ausgewählt, dazu überredet, Verrat zu begehen, und ihn schließlich ins Demokratische Deutschland gebracht. Nichts könnte klarer die Unvoreingenommenheit von Leamas demonstrieren, als dass er es noch immer bestreitet, dass Mundt ein britischer Agent war. Die Gründe, die er für die Ablehnung angibt, werde ich noch erläutern. Es ist deshalb grotesk, anzunehmen, dass Leamas ein Werkzeug in fremder Hand sei: die Initiative ging von uns aus, und die fragmentarische, aber wesentliche Aussage von Leamas liefert nur den endgültigen Beweis in einer ganzen Kette von Verdachtsmomenten, die sich innerhalb der letzten Jahre ergeben haben.
Sie haben die Niederschrift dieses Falles vor sich. Ich brauche Ihnen deshalb nur noch Tatsachen zu erläutern, die Ihnen bereits bekannt sind.
Die Anklage gegen den Genossen Mundt lautet auf Spionage für eine imperialistische Macht. Ich hätte die Anklage anders vorbringen können - dass er Informationen an den britischen Geheimdienst lieferte, dass er seine Dienststelle zum ahnungslosen Lakaien eines bourgeoisen Staates machte, dass er mit voller Überlegung revanchistische und parteifeindliche Gruppen deckte und als Entgelt Beträge in ausländischer Währung annahm. Diese anderen Beschuldigungen sind alle in dem ersten Anklagepunkt zusammengefaßt: dass Hans-Dieter Mundt nämlich der Agent einer imperialistischen Macht sei. Die Strafe für dieses Verbrechen ist der Tod. Es gibt nach unserem Strafgesetz kein schwereres Verbrechen, keines, das unseren Staat mehr gefährdet oder unseren Parteiorganisationen größere Wachsamkeit abverlangt …«
Hier legte er die Papiere nieder.
»Genosse Mundt ist zweiundvierzig Jahre alt. Er ist stellvertretender Leiter des Amtes für Staatssicherheit. Er ist unverheiratet. Er ist stets als Mann von außerordentlichen Fähigkeiten angesehen worden, der unermüdlich den Parteiinteressen gedient und sie ohne Rücksichtnahme beschützt hat.
Lassen Sie mich einige Einzelheiten aus seiner Laufbahn berichten. Er trat mit achtundzwanzig Jahren in den Dienst dieser Behörde ein und erhielt die übliche Ausbildung. Nach Ablauf der Probezeit erfüllte er Sonderaufträge in skandinavischen Ländern - insbesondere in Norwegen, Schweden und Finnland -, wo es ihm gelang, durch Errichtung eines Aufklärungsnetzes den Kampf gegen die faschistischen Agitatoren in das Feindeslager vorzutragen. Er führte seinen Auftrag gut aus, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er zu dieser Zeit etwas anderes gewesen sein soll als ein fleißiges Mitglied seiner Behörde. Aber, Genossen, Sie sollten diese frühe Verbindung zu Skandinavien nicht aus dem Auge verlieren. Denn diese Netze, die von Genossen Mundt bald nach dem Krieg aufgebaut wurden, lieferten ihm viele Jahre später den Vorwand für Reisen nach Finnland und Norwegen. Nun benutzte er seine Verbindungen nur noch als Deckmantel, unter dessen Schutz er bei ausländischen Banken Tausende von Dollar als Lohn für sein verräterisches Handeln in Empfang nehmen konnte. Geben Sie sich keinem Irrtum hin: Genosse Mundt ist nicht etwa ein Opfer jener Leute geworden, die der überzeugenden Gesetzmäßigkeit des historischen Geschehens entgegenzutreten versuchen. Erst Feigheit, dann Schwäche, dann Habgier: das sind seine Motive gewesen. Sein Traum war es, Reichtümer zu raffen. Ironischerweise wurde die Macht der Gerechtigkeit gerade durch das ausgeklügelte System auf seine Spur gebracht, durch das seine Geldgier befriedigt werden sollte.«
Fiedler machte eine Pause und schaute sich im Raum um. Seine Augen glühten vor Leidenschaft. Leamas war von ihm fasziniert.
»Es soll all jenen Feinden des Staates eine Lehre sein«, rief Fiedler erregt, »deren Verbrechen so schmutzig sind, dass sie ihre Pläne in den geheimen Stunden der Nacht schmieden müssen.«
Ein pflichteifrig zustimmendes Murmeln stieg aus der Zuschauergruppe am Ende des Raumes auf.
»Sie alle werden der Wachsamkeit des Volkes, dessen Blut sie verkaufen möchten, nicht entgehen!« Es hörte sich an, als wollte Fiedler zu einer großen Menschenmenge sprechen, und nicht zu dieser Handvoll von Funktionären und Posten, die in dem kleinen Zimmer versammelt war.
In diesem Augenblick begriff Leamas, dass Fiedler kein Risiko eingehen wollte: Die Haltung des Gerichtes, der Staatsanwaltschaft und der Zeugen mußte politisch untadelig sein. Da sich Fiedler zweifellos im klaren darüber war, dass in solchen Fällen wie diesem immer die Gefahr einer anschließenden Gegenklage schlummerte, versuchte er schon jetzt, seinen Rücken zu decken: Seine Rede wurde ja Bestandteil des Protokolls, und es hätte eines sehr tapferen Mannes bedurft, wenn jemand sie später widerlegen wollte.
Fiedler öffnete nunmehr die Akte, die auf dem Tisch vor ihm lag.
»Ende 1956 wurde Mundt als Mitglied der Deutschen Stahlmission nach London geschickt. Er hatte zusätzlich den Sonderauftrag, Maßnahmen gegen die Umtriebe von Exilgruppen zu treffen. Im Verlauf dieser Tätigkeit setzte er sich großen Gefahren aus - darüber besteht kein Zweifel - und er erzielte wertvolle Ergebnisse.«