Leamas' Aufmerksamkeit wurde wieder auf die drei Personen am Mitteltisch gelenkt. Links von der Vorsitzenden ein ziemlich junger Mann, dunkler Typ. Seine Augen schienen halb geschlossen zu sein. Er hatte strähniges, widerspenstiges Haar und die blaßgraue Gesichtsfarbe eines Asketen. Seine schlanken Finger spielten unermüdlich mit der Ecke eines vor ihm liegenden Aktenstapels. Leamas nahm an, dass er auf Mundts Seite stand, ohne dass er einen Grund für diese Vermutung hätte angeben können. Auf der anderen Seite des Tisches saß ein etwas älterer Mann mit angehender Glatze und offenem, angenehmem Gesicht. Ein ziemlicher Esel, dachte Leamas. Er vermutete, Mundt werde im Fall eines Zweifels an seiner Schuld von dem jungen Mann verteidigt und von der Frau verurteilt werden. Der zweite Mann würde dann durch diese Meinungsverschiedenheit in Verlegenheit geraten und sich der Vorsitzenden anschließen.
Fiedler sprach wieder.
»Am Ende seiner Dienstzeit in London wurde er vom Gegner angeworben. Ich sagte schon, dass er sich großen Gefahren aussetzte. Dabei geriet er in Konflikt mit der britischen Geheimpolizei, und man erließ einen Haftbefehl gegen ihn. Mundt, der nicht unter diplomatischer Immunität stand - der NATO-Staat England erkennt unsere Souveränität nicht an -, mußte untertauchen, denn alle Häfen wurden beobachtet, und seine Fotografie mit einer Personenbeschreibung überall auf den Britischen Inseln verbreitet. Dennoch nahm Genosse Mundt nach zwei Tagen im Versteck ein Taxi zum Londoner Flughafen und flog nach Berlin. ›Brillant‹, werden Sie sagen, und so war es auch. Angesichts der ganzen alarmierten britischen Polizei, trotz ständiger Überwachung der Straßen, Eisenbahnen, Schifffahrts- und Luftlinien besteigt Genosse Mundt auf dem Londoner Flughafen ein Flugzeug. Brillant, in der Tat. Oder vielleicht werden Sie fühlen, Genossen, wenn Sie die Sache nachträglich überlegen, dass Mundts Flucht aus England ein wenig zu brillant, ein wenig zu leicht war, ja, dass sie ohne Duldung der britischen Behörden überhaupt nie möglich gewesen wäre!« Wieder erhob sich im hinteren Teil des Raumes ein Murmeln, spontaner als zuvor.
»Die Wahrheit ist dies: Mundt ist von den Engländern gefaßt worden. In einem kurzen, entscheidenden Verhör boten sie ihm die klassische Alternative an. Sollte er Jahre in einem britischen Gefängnis verbringen, seine glänzende Laufbahn auf diese Art beendet sehen, oder würde er entgegen allen Erwartungen auf dramatische Weise in seine Heimat zurückkehren und dadurch die kühnen, in ihn gesetzten Hoffnungen seiner Vorgesetzten noch übertreffen? Freilich setzten die Engländer vor seine Rückkehr noch eine Bedingung: er sollte versprechen, sie mit Informationen zu versehen. Und sie sagten zu, ihm dafür große Geldbeträge zukommen zu lassen. Mundt ist also mit Zucker von vorn und der Peitsche von hinten angeworben worden.
Von nun an lag es im Interesse der Briten, Mundts Karriere zu fördern. Wir können noch nicht nachweisen, ob Mundts Erfolge bei der Liquidierung von unbedeutenderen Agenten des Westens auf die Hilfe seiner imperialistischen Herren zurückgehen, die ihre eigenen, entbehrlicheren Mitarbeiter opferten, um Mundts Prestige zu erhöhen. Wir können es nicht nachweisen, das vorliegende Material legt uns diese Annahme aber nahe.
Seit 1960 - dem Jahre, da Genosse Mundt Leiter des Abwehramtes geworden ist - haben uns fortwährend Hinweise aus aller Welt erreicht, dass ein hochgestellter Spion in unseren Reihen sein müsse. Sie alle wissen, dass Karl Riemeck ein Spion war. Wir glaubten, dass mit ihm das Übel ausgerottet sein werde. Aber die Gerüchte hielten sich weiter.
Gegen Ende des Jahres 1960 nahm ein früherer Mitarbeiter von uns im Libanon Kontakt zu einem Engländer auf, von dem bekannt war, dass er Verbindung zum Secret Service hatte. Er bot ihm, wie wir bald danach erfuhren, einen vollständigen Aufriß jener beiden Büros der ›Abteilung‹ an, für die er früher gearbeitet hatte. Sein Angebot wurde nach einer Rückfrage in London abgewiesen. Eine sonderbare Sache: es konnte nur heißen, dass die Engländer dieses Material bereits besaßen.
Von Mitte 1960 an verloren wir im Ausland Mitarbeiter in alarmierendem Ausmaß. Sie wurden oft wenige Wochen nach ihrer Entsendung verhaftet. Manchmal versuchte der Feind, unsere Leute umzudrehen. Aber nicht oft. Es schien, als habe man daran kaum Interesse.
Und dann - es war im Frühjahr 1961, wenn mein Gedächtnis nicht trügt - hatten wir Glück. Wir erhielten auf Wegen, über die ich mich nicht auslassen möchte, eine Zusammenfassung der Informationen, die das Secret Service bisher über die ›Abteilung‹ bekommen hatte. Diese Informationen waren vollständig, genau und sie entsprachen in verblüffender Weise dem neuesten Stand. Ich zeigte es natürlich Mundt, da er mein Vorgesetzter war. Er sagte mir, es sei keine Überraschung für ihn: Er habe schon gewisse Ermittlungen eingeleitet, und ich solle nichts unternehmen, da sich das störend auswirken könne. Ich gestehe, dass mir in diesem Moment der Gedanke durch den Kopf ging, abwegig und phantastisch wie er war, dass Mundt womöglich selbst die Informationen geliefert habe. Es gab auch noch andere Hinweise …
Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, dass der allerletzte Mann, den man der Spionage verdächtigen würde, der Leiter der Abwehr ist. Der Gedanke ist so entsetzlich, so bombastisch, dass nur wenige ihn fassen würden, geschweige denn, dass sie ihn auszusprechen wagen. Ich gestehe, dass ich mich selbst eines übermäßigen Widerstrebens schuldig gemacht habe, als ich mich weigerte, eine scheinbar so phantastische Folgerung zu ziehen. Das war leider ein Irrtum.
Aber, Genossen, der endgültige Beweis ist uns in die Hand gegeben worden. Ich beantrage, diesen Zeugen jetzt einzuvernehmen.« Er wandte sich um und blickte zum hinteren Teil des Raumes. »Bringt Leamas nach vorn.«
Die Posten beiderseits von ihm erhoben sich, und Leamas quetschte sich an seinen Banknachbarn vorbei zu dem Gang, der in der Breite eines halben Meters zwischen den Bänken freigelassen worden war. Ein Posten bedeutete ihm, dass er sich mit dem Gesicht zu den Richtern vor den Tisch stellen solle. Fiedler stand nicht mehr als zwei Meter von ihm entfernt. Zunächst richtete die Vorsitzende das Wort an ihn.
»Zeuge, wie ist Ihr Name?« fragte sie.
»Alec Leamas.«
»Wie alt sind Sie?«
»Fünfzig.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Aber Sie waren es.«
»Jetzt bin ich es nicht.«
»Ihr Beruf?«
»Bibliotheksassistent.«
Fiedler intervenierte verärgert. »Sie waren aber früher beim britischen Geheimdienst angestellt, oder?« stieß er hervor.
»Jawohl. Bis vor einem Jahr.«
»Das Gericht hat den Bericht Ihres Verhörs gelesen«, fuhr Fiedler fort. »Ich möchte, dass Sie dem Gericht nochmals die Unterhaltung schildern, die Sie mit Peter Guillam irgendwann im Mai letzten Jahres hatten.«
»Sie meinen, als wir von Mundt sprachen?«
»Ja.«
»Ich habe es Ihnen erzählt: Im Rondell, das ist unsere Zentrale in London, lief mir Peter auf dem Korridor in den Weg. Ich wußte, dass er mit dem Fall Fennan zu tun gehabt hatte. Ich fragte ihn, was aus George Smiley geworden wäre. Wir kamen dann auf Dieter Frey zu sprechen, der gestorben, und Mundt, der in den Fall verwickelt war. Peter sagte, nach seiner Meinung habe Maston nicht gewünscht, dass Mundt gefaßt werde - Maston war es, der damals die Sache unter sich hatte.«
»Wie erklären Sie sich das?« fragte Fiedler.
»Ich wußte, dass Maston den Fall Fennan ziemlich verwirrt hatte. Ich nahm an, er wolle vermeiden, dass durch Mundts Erscheinen vor Gericht Staub aufgewirbelt würde.«
»Wäre Mundt im Fall seiner Verhaftung vor einem regulären Gericht angeklagt worden?« schaltete sich wieder die Vorsitzende ein.
»Das wäre darauf angekommen, wer ihn faßte. Wenn die Polizei ihn erwischt hätte, wäre ans Innenministerium Meldung gemacht worden. Danach hätte keine Macht der Erde mehr die Anklage gegen ihn unterdrücken können.«