Sie sind weiter davon unterrichtet worden, dass der ganze Fall ›Rollstein‹ mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen umgeben wurde, und ferner, dass Leamas in sehr ungenauen Vorstellungen von der Abteilung Peter Guillams vermutete, sie befasse sich mit der wirtschaftlichen Situation in unserer Republik. Es klingt überraschend, dass eine angeblich nur mit Wirtschaftsfragen befaßte Abteilung auf der Verteilerliste von ›Rollstein‹ stand. Erlauben Sie mir den Hinweis, dass derselbe Peter Guillam einer von jenen britischen Sicherheitsoffizieren war, die Mundts Tätigkeit in England zu untersuchen hatten.«
Der junge Mann am Tisch hob seinen Bleistift und fragte, indem er Fiedler mit harten, kalten, weit offenen Augen ansah: »Warum wurde Riemeck dann von Mundt liquidiert, wenn Riemeck doch sein Agent war?«
»Mundt konnte nicht anders. Riemeck stand unter Verdacht. Seine Freundin hatte ihn durch indiskrete Prahlerei verraten. Mundt gab den Befehl, ihn bei seinem Auftauchen sofort zu erschießen, und veranlaßte Riemeck zur Flucht. Damit war für Mundt die Gefahr, verraten zu werden, ausgeschaltet. Später ließ Mundt dann die Frau ermorden.
Ich möchte einmal kurz Mundts Technik beleuchten: Im Anschluß an seine Rückkehr nach Deutschland, im Jahre 1959, begann für den britischen Geheimdienst zunächst einmal ein Geduldspiel. Mundts Bereitschaft zur Zusammenarbeit mußte erst noch bewiesen werden. Man gab ihm deshalb Anweisungen und wartete. Man beschränkte sich darauf, das Geld zu zahlen und das Beste zu hoffen. Zu dieser Zeit war Mundt weder in unserem Amt noch in unserer Partei in leitender Stellung, aber er bekam doch eine Menge zu sehen, und was er sah, wurde weitergegeben. Natürlich hielt er die Verbindung zu seinen Herren ohne fremde Hilfe aufrecht. Wir müssen annehmen, dass man ihn in Westberlin traf, oder dass man bei seinen kurzen Reisen ins Ausland nach Skandinavien und anderswohin Fühlung mit ihm aufnahm. Die Engländer waren am Anfang sehr auf ihrer Hut - wer wäre das nicht -, sie prüften seine Informationen mit peinlicher Sorgfalt an dem, was sie schon wußten. Sie fürchteten zweifellos, dass er ein doppeltes Spiel treiben könnte. Aber allmählich merkten sie, dass sie eine Goldgrube erschlossen hatten. Mundt widmete sich seiner verräterischen Arbeit mit der systematischen Genauigkeit, für die er bekannt ist. Was jetzt folgt, Genossen, ist zwar nur eine Vermutung, aber sie basiert auf langjähriger Erfahrung mit dieser Art Arbeit und auf der Aussage von Leamas: In den ersten Monaten wagten die Engländer nicht, um Mundt herum ein Netz aufzubauen. Sie hielten ihn als einsamen Wolf in ihren Diensten und zahlten und unterwiesen ihn unabhängig von ihrer Berliner Organisation. Sie bildeten in London unter Guillam, der ja Mundt in London angeworben hatte, eine kleine Abteilung, deren Aufgaben sogar innerhalb der Organisation geheimgehalten wurden und außer einem beschränkten Personenkreis niemandem bekannt waren. Sie bezahlten Mundt mittels eines eigenen Systems, das sie ›Rollstein‹ nannten, und behandelten seine Informationen zweifellos mit äußerster Vorsicht. Die Beteuerungen von Leamas, dass ihm die Tätigkeit Mundts unbekannt gewesen sei, steht also keineswegs in Widerspruch zu der Tatsache, von der Sie gleich hören werden, dass er ihn nämlich nicht nur bezahlte, sondern dass es praktisch auch Mundts Material war, das er aus den Händen von Riemeck entgegennahm, um es nach London weiterzugeben.
Gegen Ende 1959 informierte Mundt seine Auftraggeber in London, dass er innerhalb des Präsidiums einen Mann gefunden habe, der als Vermittler zwischen ihm und London fungieren werde. Dieser Mann war Karl Riemeck.
Wie fand Mundt zu Riemeck? Wie konnte er es wagen, Riemeck zu einer derartigen Zusammenarbeit aufzufordern? Sie müssen sich die Ausnahmestellung Mundts vor Augen halten: Er hatte Zugang zu allen Sicherheitsakten, konnte Telefonleitungen anzapfen, Briefe öffnen, Beobachtungen machen lassen. Er konnte mit unbestrittenem Recht verhören, wen er wollte, und er hatte von allen ein bis ins Detail gehendes Bild ihres privaten Lebens. Vor allem konnte er sofort jeden Verdacht zum Verstummen bringen, indem er eben dieselbe Waffe gegen das Volk kehrte, die eigentlich für den Schutz des Volkes gedacht war.« Fiedlers Stimme zitterte vor Empörung.
Ohne Mühe kehrte er zu seiner sachlichen Sprechweise zurück und fuhr fort:
»Sie können jetzt erkennen, was London tat. Man behandelte Mundts Identität noch immer als strenges Geheimnis, stimmte stillschweigend der Anwerbung von Riemeck zu, und ermöglichte es, dass ein indirekter Kontakt zwischen Mundt und dem Berliner Büro hergestellt wurde. Darin liegt die Bedeutung von Riemecks Verbindung zu de Jong und Leamas. So sollten Sie Leamas' Aussagen interpretieren, so müssen Sie Mundts Verrat ermessen.« Er drehte sich um und rief, indem er Mundt voll ins Gesicht sah: »Dort sitzt der Saboteur, der Terrorist! Dort ist der Mann, der des Volkes Rechte verkauft hat!
Ich bin fast am Ende. Nur eines muß noch gesagt werden. Mundt hat sich den Ruf erworben, ein loyaler und aufrechter Beschützer des Volkes zu sein. Er hat für immer jene Zeugen zum Schweigen gebracht, die sein Geheimnis hätten verraten können. Er tötete also im Namen des Volkes, um seinen faschistischen Verrat zu decken und um seine eigene Karriere in unserem Amt zu fördern. Man kann sich kein schrecklicheres Verbrechen denken als dieses. Das ist der wahre Grund, warum er schließlich, nachdem er alles in seiner Macht Stehende zum Schutze des immer verdächtiger werdenden Karl Riemeck getan hatte, den Befehl zur sofortigen Erschießung Riemecks gab. Das ist der Grund, weshalb er Riemecks Geliebte ermorden ließ.
Wenn Sie dem Präsidium Ihr Urteil abgeben werden, dann schrecken Sie nicht davor zurück, die volle Abscheulichkeit der Verbrechen dieses Mannes zu erkennen. Für Hans-Dieter Mundt ist das Todesurteil eine Begnadigung.«
21 DER ZEUGE
Die Vorsitzende wandte sich an den kleinen Mann im schwarzen Anzug, der Fiedler gegenübersaß.
»Genosse Karden, Sie sprechen für den Genossen Mundt. Wünschen Sie den Zeugen Leamas zu verhören?«
»Gewiß, gewiß. Das möchte ich dann gleich nachher«, antwortete er, während er mühselig aufstand und sich die Bügel seiner goldgefaßten Brille über die Ohren zog. Er war eine gütige Erscheinung, die etwas provinziell wirkte. Sein Haar war weiß.
»Genosse Mundt behauptet« - seine sanfte Stimme hatte einen recht angenehmen Klang -, »dass Leamas lügt. Genosse Fiedler ist - so behauptet Genosse Mundt - wissentlich oder durch eine Verkettung widriger Umstände in eine Verschwörung hineingezogen worden, durch die man die ›Abteilung‹ zu sprengen und damit die Organe zur Verteidigung unseres sozialistischen Staates in Mißkredit zu bringen hofft. Wir bestreiten nicht, dass Karl Riemeck ein britischer Spion war - dafür sind Beweise vorhanden. Aber wir bestreiten, dass Mundt zu dem Zweck eines Verrates an der Partei mit ihm unter einer Decke gesteckt oder Geld empfangen hat. Wir erklären, dass es keinen objektiven Beweis für diese Anschuldigung gibt und dass Genosse Fiedler von Machtträumen berauscht und vernünftigen Argumenten gegenüber taub geworden ist. Wir behaupten, dass Leamas von dem Augenblick seiner Rückkehr aus Berlin nach London eine Komödie gespielt hat, indem er seinen schnellen Verfall in Degeneration, Trunksucht und Verschuldung nur vortäuschte, dass er nur zu dem Zweck, die Aufmerksamkeit der ›Abteilung‹ zu erregen, antiamerikanische Gefühle äußerte und in aller Öffentlichkeit einen Kaufmann angriff. Wir glauben, dass um den Genossen Mundt vom britischen Geheimdienst mit voller Absicht ein Gespinst von Indizienbeweisen gelegt worden ist: die Geldzahlungen an ausländische Banken und ihre Abhebung zu einem Zeitpunkt, zu dem Mundt gerade in dem betreffenden Land war, ferner das beiläufig geäußerte und nur auf Redereien beruhende Zeugnis von Peter Guillam sowie das geheime Treffen zwischen dem Chef und Riemeck, bei dem Dinge besprochen wurden, die Leamas nicht hören konnte: Dies alles läßt sich zu einer scheinbaren Beweiskette zusammenfügen - eine Versuchung, der Genosse Fiedler nach der richtigen Spekulation der Engländer seines brennenden Ehrgeizes wegen nicht widerstehen konnte. Er ist dadurch zum Handlanger einer schändlichen Verschwörung geworden, durch deren Hilfe einer der wachsamsten Verteidiger unserer Republik vernichtet werden soll. Besser sagte man ermordet, denn Mundt ist jetzt in Gefahr, sein Leben zu verlieren.