»Ich glaube, er verachtete die Partei.«
»Meinen Sie, dass er sie haßte?« fragte Karden nebenbei.
»Ich weiß nicht«, antwortete Liz verschüchtert.
»War er ein Mann mit starken Neigungen oder Abneigungen?«
»Nein … nein, das war er nicht.«
»Aber er hat einen Kaufmann angegriffen. Warum wohl tat er das?«
Liz hatte plötzlich kein Vertrauen mehr zu Karden. Sie traute der schmeichelnden Stimme und dem gütigen Engelsgesicht nicht.
»Ich weiß nicht.«
»Aber Sie haben darüber nachgedacht.«
»Ja.«
»Nun, zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
»Zu keinem«, sagte Liz einfach. Karden schaute sie nachdenklich, vielleicht auch ein wenig enttäuscht an, so als habe sie ihren Katechismus nicht gelernt.
»Wußten Sie vorher, dass Leamas den Kaufmann schlagen würde?«
»Nein«, erwiderte Liz. Ihre Antwort kam etwas zu schnell, so dass Kardens Lächeln in der nun folgenden Pause einer Miene belustigter Neugier Platz machte. Schließlich fragte er: »Wann haben Sie Leamas vor der heutigen Begegnung zum letztenmal gesehen?«
»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er ins Gefängnis ging«, antwortete Liz.
»Wann sahen Sie ihn also zuletzt?« - Die Stimme war liebenswürdig, aber beharrlich. dass Liz dem Saal ihren Rücken zukehren mußte, war ihr sehr unangenehm. Am liebsten hätte sie sich umgewandt, um Leamas sehen zu können. Vielleicht hätte sie in seinem Gesicht einen Hinweis oder irgendein Zeichen entdeckt, das ihr sagte, wie sie antworten sollte. Auch begann sie sich nun zu fürchten - diese Fragen wurzelten in Anklagen und Verdächtigungen, von denen sie keine Ahnung hatte. Die Leute mußten doch wissen, dass sie Alec zu helfen wünschte und dass sie selbst Angst hatte, aber niemand unterstützte sie. Warum kam ihr niemand zu Hilfe?
»Elisabeth, wann waren Sie zum letztenmal mit Leamas zusammen?« Oh, diese Stimme. Oh, wie sie diese seidige Stimme haßte!
»Am Abend, bevor es geschah«, antwortete sie. »Am Abend, bevor er den Kampf mit Mr. Ford hatte.«
»Den Kampf? Es war kein Kampf, Elisabeth. Der Kaufmann hat nicht zurückgeschlagen. Er hatte keine Gelegenheit dazu. Sehr unsportlich!« Karden lachte, und es klang besonders entsetzlich, weil niemand mitlachte.
»Sagen Sie mir, wo Sie Leamas an diesem letzten Abend getroffen haben.«
»In seiner Wohnung. Er war krank und nicht zur Arbeit gekommen. Er war im Bett geblieben. Ich hatte nach ihm gesehen und für ihn gekocht.«
»Und die Lebensmittel gekauft? Besorgungen gemacht?«
»Ja.«
»Wie nett. Das muß Sie eine Menge Geld gekostet haben«, bemerkte Karden teilnahmsvoll. »Konnten Sie es sich leisten, ihn auszuhalten?«
»Ich habe ihn nicht ausgehalten. Ich bekam das Geld von Alec. Er …«
»Oh«, unterbrach Karden scharf, »er hat also doch etwas Geld?«
O Gott, dachte Liz, o Gott, o lieber Gott, was habe ich jetzt gesagt?
»Nicht viel«, sagte sie schnell, »nicht viel. Ich weiß das. Ein Pfund, zwei Pfund, nicht mehr. Mehr hatte er nicht. Er konnte seine Rechnungen nicht bezahlen - sein elektrisches Licht und die Miete -, sie wurden alle hinterher von einem Freund bezahlt, nachdem er gegangen war, sehen Sie. Ein Freund mußte bezahlen, nicht Alec.«
»Natürlich«, sagte Karden gelassen. »Ein Freund bezahlte. Kam eigens und bezahlte alle seine Rechnungen. Irgendein alter Freund von Leamas, den er vielleicht schon kannte, bevor er nach Bayswater kam. Sind Sie diesem Freund jemals begegnet, Elisabeth?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe. Welche Rechnungen hat dieser gute Freund sonst noch bezahlt, wissen Sie das?«
»Nein … nein.«
»Warum zögern Sie?«
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht«, erwiderte Liz wütend.
»Aber Sie zögerten«, erklärte Karden. »Ich habe nur überlegt, ob Ihnen nicht vielleicht gerade etwas eingefallen ist.«
»Nein.«
»Sprach Leamas irgendwann von diesem Freund? Von einem Freund mit Geld, der seine Adresse kannte?«
»Er hat überhaupt nie einen Freund erwähnt. Ich war der Meinung, er habe gar keinen Freund.«
»Ah.«
Die Stille im Gerichtssaal war für Liz besonders schrecklich, weil sie - ähnlich einem blinden Kind unter Sehenden - von den Menschen in ihrer Umgebung abgeschnitten war. Die anderen konnten jede ihrer Antworten an irgendwelchen geheimen Maßstäben prüfen, während ihr selbst dies schreckliche Schweigen nicht verriet, zu welchen Ereignissen sie dabei kamen.
»Wieviel Geld, verdienen Sie, Elisabeth?«
»Sechs Pfund in der Woche.«
»Haben Sie Ersparnisse?«
»Etwas. Einige Pfund.«
»Wie hoch ist die Miete Ihrer Wohnung?«
»Fünfzig Shilling die Woche.«
»Das ist eine ganze Menge, nicht wahr, Elisabeth? Haben Sie kürzlich Ihre Miete bezahlt?«
Sie schüttelte hilflos den Kopf.
»Warum nicht?« fuhr Karden fort. »Haben Sie kein Geld?«
Flüsternd erwiderte sie: »Ich habe einen Mietvertrag. Jemand kaufte den Vertrag und schickte ihn mir.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht.« Über ihr Gesicht liefen nun Tränen. »Ich weiß nicht … Bitte fragen Sie nicht mehr. Ich weiß nicht, wer es war … Vor sechs Wochen schickten sie ihn, eine Bank in der City … Irgendeine Wohltätigkeitsstiftung war es … für tausend Pfund. Ich schwöre, dass ich nicht weiß, wer … Eine Schenkung von einer Wohltätigkeitsstiftung. Sie wissen doch schon alles, sagen Sie mir doch, wer …«
Sie weinte, während sie ihr Gesicht in den Händen verbarg. Noch immer kehrte sie dem Saal ihren Rücken zu. Das Schluchzen ließ ihre Schultern zucken und schüttelte ihren Körper. Niemand regte sich, und schließlich ließ sie die Hände sinken, ohne jedoch den Kopf zu heben.
»Warum haben Sie sich nicht erkundigt?« fragte Karden. »Oder sind Sie gewohnt, anonyme Geschenke in Höhe von tausend Pfund zu bekommen?«
Sie sagte nichts, und Karden fuhr fort: »Sie haben sich nicht erkundigt, weil Sie es erraten hatten. Habe ich nicht recht?«
Sie nickte und hob ihre Hand wieder ans Gesicht.
»Sie errieten, dass es von Leamas oder von seinem Freund kam, nicht wahr?«
»Ja.« Die Antwort kam mühsam über ihre Lippen.
»In der Straße hieß es, dass der Kaufmann Geld bekommen habe. Von irgendwoher nach der Verhandlung eine Menge Geld. Es wurde viel darüber gesprochen, und ich dachte, dass es sicher von Alecs Freund sei …«
»Das ist sehr seltsam «, sagte Karden fast zu sich selbst. »Wie merkwürdig.« Und dann: »Sagen Sie mir, Elisabeth, sind Sie von jemandem besucht worden, nachdem Leamas ins Gefängnis gekommen war?«
»Nein«, log sie. Sie wußte jetzt ganz sicher, dass man Alec irgend etwas nachweisen wollte, das mit dem Geld oder seinen Freunden zusammenhing. Es hatte sicher mit dem Kaufmann zu tun.
»Sind Sie sicher?« fragte Karden, während er seine Augenbrauen über die goldenen Brillenränder emporzog.
»Ja.«
»Ihr Nachbar, Elisabeth«, wandte Karden geduldig ein, »behauptet aber, dass zwei Männer gekommen seien, und zwar ziemlich bald, nachdem Leamas verurteilt worden war. Oder waren das nur Liebhaber, Elisabeth? Gelegentliche Liebhaber, wie Leamas einer war, der Ihnen Geld gab?«
»Alec war kein gelegentlicher Liebhaber«, rief sie, »wie können Sie …«
»Aber er gab Ihnen Geld. Haben diese Männer Ihnen auch Geld gegeben?«
»O Gott«, schluchzte sie.
»Wer war das?« Sie antwortete nicht.
Plötzlich brüllte Karden, es war das erstemal, dass er seine Stimme erhob: »Wer?«
»Ich weiß nicht. Sie kamen im Auto. Freunde von Alec.«
»Weitere Freunde? Was wollten sie?«
»Ich weiß nicht. Sie fragten mich immer wieder, was er mir erzählt habe … Sie sagten mir, ich solle mich an sie wenden, wenn …«
»Wie? Wie sollten Sie sich an sie wenden?«
Schließlich antwortete Liz: »Er wohnte in Chelsea … sein Name war Smiley … George Smiley … ich sollte ihn anrufen.«