Die Wärterin schob den Teller beiseite und stand auf. »Wir warten auf Anweisungen«, antwortete sie. »Man entscheidet noch, ob Sie bleiben müssen.«
»Bleiben?« wiederholte Liz mit leeren Ausdruck.
»Es ist eine Frage der Beweisaufnahme. Fiedler wird vielleicht verurteilt werden. Ich sagte Ihnen schon: Man vermutet eine Verschwörung zwischen Fiedler und Leamas.«
»Aber gegen wen? Wie konnte er sich in England verschwören? Wie konnte er hierherkommen? Er ist nicht in der Partei.«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Es ist geheim«, antwortete sie. »Es ist alleinige Sache des Präsidiums. Vielleicht hat ihn der Jude hergebracht.«
»Aber Sie wissen es doch«, beharrte Liz mit einem schmeichelnden Unterton. »Sie sind Kommissar hier im Gefängnis. Bestimmt hat man es Ihnen gesagt?«
»Vielleicht«, erwiderte die Frau selbstgefällig. »Aber es ist streng geheim.«
Das Telefon läutete. Die Frau nahm den Hörer ab und lauschte dann. Kurz darauf schaute sie Liz an.
»Ja, Genosse, sofort«, sagte sie und legte den Hörer auf.
»Sie müssen bleiben«, sagte sie kurz. »Das Präsidium wird den Fall Fiedler behandeln. Solange müssen Sie bleiben. Genosse Mundt will es so.«
»Wer ist Mundt?«
Die Frau sah verschmitzt aus.
»Es ist der Wunsch des Präsidiums«, sagte sie.
»Ich will nicht bleiben«, schrie Liz. »Ich will …«
»Die Partei weiß mehr über uns als wir selbst«, erwiderte die Frau. »Sie müssen hierbleiben. Es ist der Wunsch der Partei.«
»Wer ist Mundt?« fragte Liz wieder, aber auch diesmal erhielt sie keine Antwort.
Langsam folgte Liz der Frau durch endlose Gänge, durch bewachte Gittertore, an eisernen Türen vorbei, durch die kein Laut drang, endlose Stufen hinunter, durch tief unter der Erde liegende Räume, bis sie dachte, sie sei ins Innere der Hölle selbst hinabgestiegen, wo ihr nicht einmal mehr der Tod von Leamas mitgeteilt wurde.
Sie hatte keine Vorstellung, wie spät es sein mochte, als sie draußen vor ihrer Zelle Schritte auf dem Gang hörte. Es konnte ebensogut fünf Uhr nachmittag wie Mitternacht sein. Sie war wach gewesen und hatte mit leerem Ausdruck in die Dunkelheit gestarrt, während sie sich nach irgendeinem Geräusch sehnte. Sie hätte nie gedacht, dass Stille so furchtbar sein konnte. Einmal hatte sie laut geschrien, aber es gab kein Echo, nichts, nur die Erinnerung an ihre eigene Stimme. Sie stellte sich vor, dass ihr Schrei gegen die Dunkelheit geschlagen habe wie eine Faust gegen einen Felsen. Während sei auf dem Bett saß, war sie mit den Händen um sich gefahren, und es war ihr dabei so vorgekommen, als lasse die Dunkelheit sie schwerer werden, so dass sie wie ein Taucher unter Wasser umhertappte. Sie wußte, dass die Zelle klein war und außer dem Bett ein Waschbecken ohne Hähne und einen groben Tisch enthielt: sie hatte das gesehen, als sie heruntergekommen war. Danach war das Licht plötzlich erloschen, und sie war schnell in der Richtung auf das Bett zu gegangen, bis sie mit den Schienbeinen dagegenstieß. Dort war sie voll Angst geblieben, bis sie die Schritte hörte, und plötzlich die Tür ihrer Zelle geöffnet wurde.
Sie erkannte ihn sofort, obwohl sie nur seine Silhouette gegen das fahle blaue Ganglicht wahrnehmen konnte: die gutgebaute, bewegliche Gestalt, die klare Linie der Backen und das kurze blonde Haar, das vom Schein des Lichtes dahinter nur leicht berührt wurde.
»Ich bin Mundt«, sagte er. »Kommen Sie mit mir, sofort.« Seine Stimme war voll von Verachtung, aber doch leise, als wolle er es vermeiden, von anderen gehört zu werden. Liz war plötzlich von Angst erfüllt. Sie dachte an die Wärterin: »Mundt weiß mit Juden umzugehen.« Sie stand neben dem Bett, starrte ihn an und wußte nicht, was sie tun sollte.
»Schnell, Sie Idiotin.« Mundt war vorgetreten und hatte sie am Handgelenk gepackt. »Schnell.« Sie ließ sich hinaus in den Gang ziehen. Verwirrt sah sie, wie Mundt die Tür ihrer Zelle wieder verschloß. Er faßte sie rauh am Arm und führte sie schnell, halb laufend, halb gehend den Gang entlang. Sie hörte das ferne Surren von Ventilatoren und - dann und wann aus abzweigenden Gängen - den Laut anderer Schritte. Sie bemerkte, dass Mundt vor den Einmündungen anderer Gänge zögerte oder manchmal sogar zurückwich, um erst weiterzuwinken, nachdem er sich vergewissert hatte, dass auch niemand kam. Er schien anzunehmen, dass sie ihm freiwillig folgte und dass sie den Grund dafür wisse. Es war fast, als behandle er sie wie eine Komplizin.
Er war plötzlich stehengeblieben und öffnete nun mit einem Schlüssel eine schmutzige Metalltür. Liz wartete voll panischer Angst. Er stieß die Tür auf, und wohltuend streifte die kalte Luft eines Winterabends ihr Gesicht. Er winkte ihr wieder mit derselben dringenden Eile, und sie folgte ihm zwei Stufen hinab auf einen Kiesweg, der durch einen ungepflegten Küchengarten führte.
Sie gingen den Weg entlang bis zu einer kunstvollen gotischen Toreinfahrt, hinter der eine Straße vorbeiführte. An der Einfahrt parkte ein Wagen. Daneben stand Alec Leamas.
»Halten Sie Abstand«, warnte Mundt, als sie losrennen wollte. »Warten Sie hier.«
Mundt ging allein, und ihr schien es eine Ewigkeit, die die beiden Männer beisammen standen und ruhig miteinander sprachen. Ihr Herz schlug wie verrückt, und vor Angst und Kälte zitterte sie am ganzen Körper. Schließlich kam Mundt zurück.
»Kommen Sie mit«, sagte er und führte sie zu Leamas. Die zwei Männer sahen sich einen Augenblick lang an.
»Leben Sie wohl«, sagte Mundt gleichgültig. Dann fügte er hinzu: »Sie sind ein Esel, Leamas. Sie taugt genausowenig wie Fiedler.« Und ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging schnell davon, in die Dämmerung hinein.
Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und berührte ihn, aber er wandte sich ab und schob ihre Hand beiseite, während er die Wagentür öffnete. Er bedeutete ihr mit einem Nicken, sie solle einsteigen, aber sie zögerte.
»Alec«, flüsterte sie, »Alec, was machst du? Wieso läßt er dich gehen?«
»Sei ruhig!« zischte Leamas. »Daran darfst du nicht einmal denken, hörst du? Steig ein!«