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»Du versuchst ja, dich selbst zu überzeugen«, rief Liz. »Sie haben abscheulich gehandelt. Wie kannst du Fiedler umbringen - er war gut, Alec. Ich weiß, dass er gut war. Und Mundt …«

»Worüber, zum Teufel, beschwerst du dich?« wollte Leamas wissen. »Deine Partei ist immer im Kampf, nicht wahr? Und opfert das Individuum für die Masse. Das sagt deine Partei selbst. Sozialistische Wirklichkeit: Tag und Nacht kämpfen - den gnadenlosen Kampf -, so sagen sie doch, nicht wahr? Wenigstens hast du überlebt. Ich habe nie gehört, dass die Kommunisten die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens gepredigt hätten. Nun, vielleicht habe ich es falsch verstanden«, fügte er sarkastisch hinzu. »Ich gebe zu, ja, ich gebe zu, dass du vielleicht dabei hättest umkommen können. Die Möglichkeit bestand. Mundt ist ein gemeines Schwein. Er sah keinen Sinn darin, dich überleben zu lassen. Sein Versprechen - ich nehme an, er gab ein Versprechen, für dich sein Bestes zu tun - ist nicht viel wert. Deshalb wärest du in einem Gefängnis des Arbeiterparadieses gestorben - heute, nächstes Jahr, in zwanzig Jahren. Vielleicht auch ich. Aber ich erinnere mich, dass die Partei auf die Vernichtung einer ganzen Klasse abzielt. Oder habe ich das falsch verstanden?«

Er zog eine Packung Zigaretten aus seiner Jacke, und zusammen mit einer Schachtel Streichhölzer gab er ihr zwei. Ihre Finger zitterten beim Anzünden und als sie Leamas eine zurückgab.

»Du hast diese Probleme alle gelöst, nicht wahr?« fragte sie.

»Wir paßten zufällig gut in die Form«, beharrte Leamas, »und ich bedauere es. Ich bedauere auch die anderen, die in die Form passen. Aber beklage dich nicht über die Bedingungen, Liz! Es sind Parteibedingungen. Ein kleiner Preis für einen großen Gewinn. Einer geopfert für viele. Ich weiß, es ist nicht angenehm, darüber zu entscheiden, wer den Gedanken in der Praxis zu verwirklichen hat.«

Sie hörte ihm zu, und in der Dunkelheit war ihr für einen Augenblick nichts anderes bewußt, als die vor ihnen zurückweichende Straße und das dumpfe Entsetzen in ihrem Inneren.

»Aber sie ließen mich dich lieben«, sagte sie schließlich. »Und du ließest mich an dich glauben und dich lieben.«

»Sie haben uns benützt«, antwortete Leamas erbarmungslos. »Sie betrogen uns beide, weil es nötig war. Es war der einzige Weg. Fiedler war schon verdammt nahe dem Ziel, begreifst du das nicht? Mundt war nahe daran, gefaßt zu werden, kannst du das nicht verstehen?«

»Wie kannst du die ganze Welt verdrehen?« schrie Liz plötzlich. »Fiedler war gütig und anständig. Er tat nur seine Pflicht. Und jetzt habt ihr ihn umgebracht. Mundt ist ein Spion und Verräter, und ihr beschützt ihn. Mundt ist ein Nazi, weißt du das? Er haßt die Juden … Auf welcher Seite stehst du? Wie kannst du …«

»In dem ganzen Spiel gibt es nur eine Regel«, antwortete Leamas. »Mundt ist ihr Mann, er gibt ihnen, was sie brauchen. Das ist leicht genug zu verstehen, oder nicht? Leninismus - die Zweckmäßigkeit zeitlich begrenzter Bündnisse. Was glaubst du, dass Spione seien: Priester, Heilige, Märtyrer? Sie sind eine schmutzige Prozession von hohlen Narren und Verrätern. Ja, auch von Schwulen, Sadisten und Trinkern. Von Leuten, die Räuber und Gendarm spielen, um ihrem erbärmlichen Leben etwas Reiz zu geben. Glaubst du, sie sitzen wie Mönche in London und wägen Recht gegen Unrecht ab? Ich würde Mundt getötet haben, wenn ich gekonnt hätte, ich hasse seinen Charakter. Aber nicht jetzt, da man ihn gerade braucht. Man braucht ihn, damit die große, dumme Masse, die du bewunderst, nachts ruhig in ihren Betten schlafen kann. Man braucht ihn für die Sicherheit gewöhnlicher, unscheinbarer Leute wie du und ich.«

»Aber was ist mit Fiedler - empfindest du gar nichts für ihn?«

»Dies ist ein Krieg«, antwortete Leamas. »Es wird besonders deutlich, wie unerfreulich er ist, weil er im kleinen Maßstab aus großer Nähe ausgetragen wird. Manchmal wird dabei unschuldiges Leben vergeudet, das gebe ich zu. Aber er ist nichts, überhaupt nichts, im Vergleich zu anderen Kriegen - dem letzten oder dem nächsten.«

»O Gott«, sagte Liz schwach. »Du verstehst nicht. Du willst nicht verstehen. Du versuchst, dich selbst zu überzeugen. Was sie tun, ist doch viel schlimmer: sie spüren die menschlichen Gefühle in den Leuten auf - in mir und allen anderen, die sie benützen wollen - und verwandeln sie in ihren Händen zu Waffen, um damit zu verletzen und zu töten …«

»Großer Gott«, rief Leamas. »Was sonst haben die Menschen getan, seit die Welt besteht? Ich glaube an nichts, verstehst du? Nicht einmal an Zerstörung oder Anarchie. Ich habe genug vom Töten, übergenug, aber ich sehe nicht, welche andere Möglichkeit sie hätten. Sie versuchen nicht, zu bekehren, sie stehen nicht auf Kanzeln oder Parteitribünen, um zum Kampf für Frieden oder für Gott oder für was auch immer aufzurufen. Sie sind die armen Hunde, die die Prediger daran zu hindern versuchen, einander in die Luft zu jagen.«

»Du hast nicht recht«, erklärte Liz hoffnungslos. »Sie sind schlechter als wir alle.«

»Weil ich mit dir ein Verhältnis hatte, als du glaubtest, ich sei ein Vagabund?« fragte Leamas wütend.

»Weil sie alles verachten«, antwortete Liz. »Weil sie alles verachten, was wahr und gut ist: die Liebe, die …«

»Ja«, stimmte Leamas plötzlich erschöpft zu. »Das ist der Preis, den sie zahlen: Gott und Karl Marx im selben Satz zu verachten. Wenn du das meinst.«

»Du bist nicht anders«, fuhr Liz fort, »nicht anders als Mundt und der ganze Rest. Ich muß es ja wissen, ich bin diejenige gewesen, die herumgestoßen wurde, oder nicht? Von den anderen und von dir, von dir, weil es dir egal ist. Nur von Fiedler nicht … Aber ihr anderen alle habt mich behandelt, als ob ich nichts wäre … nur Währung, mit der man bezahlen kann. Ihr seid alle gleich, Alec.«

»O Liz«, sagte er verzweifelt. »Glaube mir um Gottes willen. Ich hasse das alles, ich bin es leid. Aber es ist die Welt, es ist die Menschheit, die verrückt geworden ist. Wir wären doch nur ein kleiner Preis. Aber es ist überall das gleiche, Menschen, betrogen und irregeführt, ganze Leben weggeworfen, Menschen erschossen und im Gefängnis, ganze Gruppen und Klassen abgeschrieben - für nichts. Und deine Partei: Gott weiß, dass sie auf den Leibern gewöhnlicher Leute errichtet worden ist. Du hast nicht wie ich Menschen sterben gesehen, Liz …«

Während er sprach, erinnerte sich Liz wieder des schäbigen Gefängnishofes und der Wärterin, die sagte: »Es ist ein Gefängnis für die, die den Aufbau verzögern … Für die, die ein Recht auf Irrtum zu haben glauben.«

Leamas schaute plötzlich angespannt durch die Windschutzscheibe. Im Scheinwerferlicht des Wagens sah Liz einen Mann auf der Straße stehen. In der Hand hielt er eine kleine Lampe, die er an- und ausknipste, als sich der Wagen näherte. »Das ist er«, murmelte Leamas. Er schaltete die Scheinwerfer und den Motor ab, und ließ den Wagen lautlos weiterrollen. Als sie den Mann erreicht hatten, lehnte sich Leamas zurück und öffnete die hintere Tür. Liz drehte sich nicht um und sah ihn nicht an, als er einstieg. Sie starrte bewegungslos geradeaus die Straße hinunter in den fallenden Regen.

»Fahren Sie mit dreißig Stundenkilometern«, sagte der Mann. Seine Stimme klang heiser und ängstlich. »Ich werde Ihnen den Weg zeigen. Wenn wir die Stelle erreichen, müssen Sie aussteigen und zur Mauer laufen. Der Scheinwerfer wird die Stelle anstrahlen, wo Sie hochklettern müssen. Stellen Sie sich in Richtung des Lichtstrahls. Beginnen Sie hochzuklettern, sobald der Strahl weiterschwenkt. Sie werden neunzig Sekunden haben, um hinüberzukommen. Sie gehen zuerst«, sagte er zu Leamas, »und das Mädchen folgt. Es sind Eisensprossen im unteren Teil - hernach müssen Sie sich hochziehen, so gut Sie können. Sie werden sich oben setzen und das Mädchen hochziehen müssen. Haben Sie verstanden?«