»Wir haben verstanden«, sagte Leamas. »Wie lange ist es noch?«
»Wenn Sie mit dreißig Stundenkilometern fahren, werden wir in ungefähr neun Minuten dort sein. Der Scheinwerfer wird genau fünf nach eins auf die Mauer gerichtet. Man kann Ihnen neunzig Sekunden geben. Nicht mehr.«
»Was geschieht nach neunzig Sekunden?« fragte Leamas.
»Man kann Ihnen nur neunzig Sekunden geben«, wiederholte der Mann. »Sonst ist es zu gefährlich. Es ist nur eine Streife instruiert worden. Die Männer glauben, dass Sie nach Westberlin eingeschleust werden. Sie haben den Befehl erhalten, es nicht zu leicht zu machen. Neunzig Sekunden genügen.«
»Das will ich sehr hoffen«, sagte Leamas trocken. »Wie spät haben Sie?«
»Ich habe meine Uhr mit der des Streifenführers verglichen«, antwortete der Mann. Auf dem Rücksitz des Wagens zuckte kurz ein Licht auf. »Es ist zwölf Uhr achtundvierzig. Fünf vor eins müssen wir weiter. Noch sieben Minuten zu warten.«
Sie saßen in völliger Stille, bis auf das Geräusch des Regens, der auf das Wagendach trommelte. Das Pflaster der vor ihnen liegenden Straße wurde alle hundert Meter von schwachen Straßenlaternen beleuchtet. Es war niemand zu sehen. Der Himmel über ihnen schimmerte düster im unnatürlichen Schein entfernter Bogenlampen. Gelegentlich strich der Strahl des Scheinwerfers über sie hinweg. Weit links erblickte Leamas dicht über dem Horizont ein Licht, das wie der Widerschein eines Feuers laufend seine Stärke wechselte.
»Was ist das?« fragte er, indem er darauf deutete.
»Der Informationsdienst«, antwortete der Mann. »Eine Tafel aus vielen Lampen, mit der in Leuchtschrift Nachrichtenschlagzeilen nach Ostberlin herübergestrahlt werden.«
»Natürlich«, murmelte Leamas. Sie waren dem Ende der Straße sehr nahe.
»Es gibt kein Umkehren«, fuhr der Mann fort. »Hat er Ihnen das gesagt? Es gibt keine zweite Chance.«
»Ich weiß«, erwiderte Leamas.
»Wenn irgend etwas schiefgeht - wenn Sie fallen oder sich verletzen, kehren Sie nicht um. Innerhalb des Streifens an der Mauer wird sofort geschossen. Sie müssen hinüberkommen.«
»Wir wissen Bescheid«, wiederholte Leamas. »Er hat es mir gesagt.«
»Sobald Sie aus dem Wagen gestiegen sind, befinden Sie sich im Grenzstreifen.«
»Wir wissen es. Nun seien Sie ruhig«, sagte Leamas.
Dann fügte er hinzu: »Bringen Sie den Wagen zurück?«
»Sobald Sie ausgestiegen sind, fahre ich weg. Auch für mich ist es gefährlich.«
»Was Sie nicht sagen.«
Wieder war Stille. Dann fragte Leamas: »Haben Sie einen Revolver?«
»Ja«, sagte der Mann. »Aber ich kann ihn nicht hergeben. Er sagte, ich dürfe ihn Ihnen nicht geben … Sie würden sicher danach fragen.«
Leamas lachte spöttisch. »Das dachte ich mir«, sagte er.
Leamas startete den Motor. Mit einem Lärm, der die ganze Straße auszufüllen schien, fuhr der Wagen langsam vorwärts. Sie waren ungefähr hundert Meter gefahren, als der Mann aufgeregt flüsterte: »Hier rechts, dann links.« Sie bogen in eine enge Nebenstraße ein. Zu beiden Seiten waren leere Marktstände, so dass der Wagen kaum hindurchkam.
»Hier links, jetzt.«
Leamas zog den Wagen schnell herum, diesmal zwischen zwei hohe Gebäude in eine Straße hinein, die wie eine Sackgasse aussah. Es hing Wäsche über der Straße, und Liz war nicht sicher, ob sie darunter hindurchkommen würden.
Als sie sich dem Ende der Sackgasse näherten, sagte der Mann: »Links, fahren Sie auf den Fußweg.«
Leamas fuhr den Bordstein hinauf und über den Bürgersteig in einen breiten Fußweg, der links von einem verfallenen Geländer und rechts von einem hohen, fensterlosen Gebäude eingesäumt war. Irgendwo über ihnen hörten sie eine Frauenstimme rufen. »Halt den Mund«, murmelte Leamas, während er ungeschickt eine rechtwinkelige Biegung des Weges nahm, der fast gleich darauf in eine breitere Straße mündete.
»Wohin?« fragte er.
»Geradeaus drüber - an der Apotheke vorbei - zwischen der Apotheke und dem Postamt - da!« Der Mann beugte sich so weit nach vorn, dass sein Gesicht fast zwischen ihren Köpfen war. Über die Schulter von Leamas hinweg zeigte er jetzt die Richtung an, wobei er seine Fingerspitze gegen die Windschutzscheibe preßte.
»Setzen Sie sich zurück«, zischte Leamas. »Nehmen Sie Ihre Hand weg. Wie, zum Teufel, soll ich etwas sehen, wenn Sie mit Ihrer Hand so herumfuchteln?« Er drückte den Schalthebel in den ersten Gang und überquerte schnell die breite Straße. Als er dabei nach links schaute, bemerkte er erstaunt nur hundert Meter entfernt die gedrungene Silhouette des Brandenburger Tores und an dessen Fuß die unheimlich wirkende Ansammlung von Militärfahrzeugen.
»Wohin fahren wir?« fragte Leamas plötzlich.
»Wir sind fast da. Fahren Sie langsam jetzt. Links, links, fahren Sie nach links!« schrie er, und Leamas riß das Steuer gerade noch rechtzeitig herum. Sie fuhren durch einen engen Torbogen in einen Hof. Die Fensterscheiben in dem Gebäude fehlten zur Hälfte, teils waren die Öffnungen mit Brettern verschlagen; die leeren Eingänge gähnten sie an. Am anderen Ende des Hofes war ein offenes Tor. »Da durch«, kam der geflüsterte Befehl, »dann scharf rechts. Sie werden rechts eine Straßenlaterne sehen, die nächste dahinter ist kaputt. Wenn Sie an die zweite Laterne kommen, stellen Sie den Motor ab und rollen Sie weiter, bis Sie einen Hydranten sehen. Das ist es.«
»Warum, zum Teufel, sind Sie nicht selbst gefahren?«
»Er sagte, Sie sollten fahren. Er meinte, es wäre sicherer.«
Sie passierten das Tor und bogen scharf nach rechts. Sie waren in einer engen Straße. Es war stockfinster.
»Licht aus.«
Leamas schaltete das Wagenlicht aus und fuhr langsam auf die erste Laterne zu. Weiter vorn war gerade noch die zweite zu sehen. Sie brannte nicht. Er stellte den Motor ab, und sie rollten lautlos weiter, bis sie acht Meter vor sich den schwachen Umriß des Hydranten wahrnahmen. Leamas bremste, der Wagen hielt.
»Wo sind wir?« flüsterte Leamas. »Haben wir nicht die Leninallee überquert?«
»Greifswalder Straße. Dann nordwärts. Wir sind nördlich der Bernauerstraße.«
»Pankow?«
»So ungefähr. Sehen Sie«, der Mann zeigte in eine Seitenstraße hinein. An ihrem Ende sahen sie ein kurzes Stück der Mauer. Es schimmerte graubraun im müden Licht der Bogenlampen. Oben waren drei Reihen Stacheldraht gespannt.
»Wie soll das Mädchen über den Draht kommen?«
»Er ist schon durchschnitten, wo Sie hinübersteigen. Es ist ein schmales Loch. Sie haben eine Minute, um die Mauer zu erreichen. Leben Sie wohl.«
Sie hatten den Wagen verlassen, alle drei. Leamas nahm Liz am Arm, und sie wich zurück, als hätte er sie verletzt.
»Leben Sie wohl«, sagte der Deutsche.
Leamas flüsterte nur: »Lassen Sie den Motor nicht an, bis wir hinüber sind.«
Liz blickte den Deutschen einen Moment an. In dem schwachen Licht hatte sie den flüchtigen Eindruck eines ängstlichen, jungen Gesichtes: das Gesicht eines Knaben, der tapfer zu sein versuchte.
»Leben Sie wohl«, sagte Liz.
Sie löste ihren Arm und folgte Leamas in die enge Straße, die zur Mauer führte.
Als sie die Straße betraten, hörten sie den Wagen hinter sich starten, wenden und schnell in der Richtung, aus der sie gekommen waren, davonfahren.
»Bring dich nur in Sicherheit, du Saukerl«, murmelte Leamas und blickte dem Wagen nach.
Liz hörte ihn kaum.
26 AUS DER KÄLTE HEREIN
Sie gingen schnell. Von Zeit zu Zeit blickte Leamas über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass sie folgte. Als er das Ende der Gasse erreichte, blieb er stehen und trat dann in den Schatten eines Einganges. Er sah auf die Uhr.
»Zwei Minuten«, flüsterte er.
Sie sagte nichts. Sie starrte geradeaus auf die Mauer und die schwarzen Ruinen dahinter.
»Zwei Minuten«, wiederholte Leamas.