Die Jagd des Lebens
Es war einmal ein Jäger, der ging zu Wald in eine öde Wildnis, dort zu jagen. Da kam er einem Tiere auf die Fährte, als er dieses aber endlich entdeckte, wünschte er es nimmermehr gesehen zu haben, denn es war ein mächtiges Einhorn, welches sich gegen ihn stellte. Eilig wandte er sich zur Flucht, und stets verfolgte ihn das Einhorn, bis er auf eine steile Felswand kam, deren schroffen Abhang tief unten die Wellen eines dunklen Sees bespühlten. In dem See schwamm ein ungeheurer Drache, der den Rachen gähnend aufriß, und plötzlich glitt der Jäger aus, und wäre gerade hinab in den See und in des Drachen Schlund gestürzt, wenn er nicht an einem einer Felsritze entsproßten Strauch sich festgehalten hätte. Da war nun des Jägers Lage eine todängstliche. Droben stand, wie ein Wächter das schreckliche Einhorn, drunten lauerte auf seinen Hinabsturz der grauliche Seedrache. In dieser Noth ward seine Angst und Quaal aber noch vermehrt, denn mit einem Male erblickte er zwei Mäuse, eine weiße Maus und eine schwarze Maus; die begannen an den Wurzeln der Staude zu nagen, und der Jäger vermochte nicht, sie hinwegzuscheuchen, weil er sich mit beiden Händen anhalten mußte. So mußte er jeden Augenblick gewärtig sein, daß die Wurzeln des Strauchs diesen nicht mehr halten würden. Ueber ihm stand ein Baum, von dem träufelte süßer Honig nieder, und gar zu gern hätte der Jäger diesen Baum erlangt, denn damit meinte er aller Quaal erledigt zu sein, und über den Baum vergaß er aller ihm drohenden Gefahr. Wir wissen nicht, ob es ihm gelungen, aus seiner dreifachen Quaal erlöst zu werden, oder ob die Mäuse des Strauches Wurzeln ganz abgenagt. Der alte Dichter dieser Märe gibt ihr eine allegorische Deutung, indem er sagt: Der Jäger, das ist der Mensch, und das Einhorn, das ist der Tod, der ihm begegnet, ehe er es vermeint und ihn immerdar verfolgt. Die steile Felswand ist die Erde und der Strauch ist das Leben, daran der Mensch nur mit schwachen Banden hängt. Die weiße und die schwarze Maus, welche das Leben an der Wurzel benagen, ist Tag und Nacht, oder die rastlose Zeit, die an unserem Leben zehrt. Der dunkle See ist die Hölle, und sein Drache der Teufel, die darauf lauern, daß der Mensch falle und in ihren Rachen stürze. Der Honigbaum aber ist die Liebe, die das Leben versüßende, welcher der Mensch zustrebt und sie zu erlangen hofft zwischen Not und Tod, zwischen Quaal und Pein, keiner Gefahr achtend, und in deren Erringung er seine irdische Seligkeit findet. Doch soll der Mensch sich täglich hüten, da die Mäuse ihn an der Lebenswurzel zehren, daß er nicht in den See des Verderbens falle.
Der goldne Rehbock
Es waren einmal zwei arme Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, das Mädchen hieß Margarethe, der Knabe hieß Hans. Ihre Aeltern waren gestorben, hatten ihnen auch gar kein Eigenthum hinterlassen, daher sie ausgehen mußten, um durch Betteln sich fortzubringen. Zur Arbeit waren beide noch zu schwach und klein; denn Hänschen zählte erst zwölf Jahre, uns Grethchen war noch jünger. Des Abends gingen sie vor's erste beste Haus, klopften an und baten um Nachtquartier, und vielmal waren sie schon von guten, mildthätigen Menschen aufgenommen, gespeiset und getränket worden; auch hatte mancher und manche Barmherzige ihnen ein Kleidungsstückchen zugeworfen. So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen, welches einzeln stand; da klopften sie an's Fenster, und als gleich darauf eine alte Frau heraussah, fragten sie diese, ob sie hier nicht über Nacht bleiben dürften? Die Antwort war: "Meinetwegen, kommt nur herein!" Aber wie sie eintraten, sprach die Frau: "Ich will euch wohl über Nacht behalten, aber wenn es mein Mann gewahr wird, so seid ihr verloren; denn er isset gern einen jungen Menschenbraten, daher er alle Kinder schlachtet, die ihm vor die Hand kommen!" Da wurde den Kindern sehr angst; doch konnten sie nunmehr nicht weiter, es war schon ganz dunkle Nacht geworden. So ließen sie sich gutwillig von der Frau in ein Faß verstekken, und verhielten sich ruhig. Einschlafen konnten sie aber lange nicht, zumal da sie nach einer Stunde die schweren Tritte eines Mannes vernahmen, der wahrscheinlich der Menschenfresser war. Deß wurden sie bald gewiß, denn jetzt fing er an mit brüllender Stimme auf seine Frau zu zanken, daß sie keinen Menschenbraten für ihn zugerichtet. Am Morgen verließ er das Haus wieder, und tappte so laut, daß die Kinder, die endlich doch eingeschlummert waren, darüber erwachten. Als sie von der Frau etwas zu frühstücken bekommen hatten, sagte diese: "Ihr Kinder müßt nun auch etwas thun, da habt ihr zwei Besen, geht oben hinauf und kehrt mir meine Stuben aus, deren sind zwölf, aber ihr kehret davon nur elf, die zwölfte dürft ihr um's Himmelswillen nicht aufmachen. Ich will derzeit einen Ausgang thun. Seid fleißig, daß ihr fertig seid, wenn ich wieder komme." Die Kinder kehrten sehr emsig, und gar bald waren sie mit den elf Stuben fertig. Nun mochte Grethchen doch gar zu gerne wissen, was in der zwölften Stube wäre, das sie nicht sehen sollten, weil ihnen verboten war, die Stube zu öffnen. Sie guckte ein wenig durchs Schlüsselloch, und sah da einen herrlichen kleinen goldenen Wagen, mit einem goldenen Rehbock bespannt. Geschwind rief sie Hänschen herbei, daß er auch hinein gucken sollte. Und als sie sich erst tüchtig umgesehen, ob die Frau nicht heimkehre, und da von dieser noch gar nichts zu sehen war, schlossen sie schnell die Thüre auf, zogen den Wagen sammt Rehbock heraus, setzten drunten auf der Straße sich hinein in den Wagen und fuhren auf und davon. Aber nicht lange, so' sahen sie von weitem die alte Frau und auch den Menschenfresser sich entgegen kommen, gerade des Weg's, den sie mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten. Hänslein sprach: "Ach, Schwester, was machen wir? Wenn uns die beiden Alten entdecken, sind wir verloren." "Still!" sprach Grethchen, "ich weiß ein kräftiges Zaubersprüchlein, welches sich noch von unsrer Großmutter gelernt habe: Rosenrote Rose sticht; Siehst Du mich, so sieh mich nicht! und alsbald waren sie verwandelt in einen Rosenstrauch. Grethchen wurde zur Rose, Hänslein zu Dornen, der Rehbock zum Stiele, der Wagen zu Blättern. Nun kamen beide, der Menschenfresser und seine Frau, daher gegangen und letztere wollte sich die schöne Rose abbrechen, aber sie stach sich so sehr, daß ihre Finger bluteten, und sie ärgerlich davon ging. Wie die Alten fort waren, machten sich die Kinder eilig auf, und fuhren weiter und kamen bald an einen Backofen, der voll Brod stand. Da hörten sie aus demselben eine hohle Stimme rufen: "Rückt mir mein Brod, rückt mir mein Brod." Schnell rückte Grethchen das Brod, und that es in ihren Wagen, worauf sie weiter fuhren. Da kamen sie an einen großen Birnbaum, der voll reifer schöner Früchte hing, aus diesem tönte es wieder: "Schüttelt mir meine Birnen, schüttelt mir meine Birnen!" Grethchen schüttelte sogleich, und Hänschen half gar fleißig auflesen, und die Birnen in den goldenen Wagen schütten. Und wieder kamen sie an einen Weinstock, der rief mit angenehmer Stimme: "Pflückt mir meine Trauben, pflückt mir meine Trauben!" Grethchen pflückte auch diese und packte sie in ihren Wagen. Unterdessen aber waren der Menschenfresser und seine Frau, daheim angelangt, und hatten mit Ingrimm wahrgenommen, daß die Kinder ihren goldenen Wagen sammt Rehbock gestohlen, gerade wie diese beiden ebenfalls vor langen Jahren Wagen und Rehbock gestohlen, und noch dazu bei dem Diebstahl auch einen Mord begangen hatten, nämlich den rechtmäßigen Eigenthümer erschlagen. Der mit dem Rehbock bespannte Wagen war nicht nur an und für sich von großem Werth, sondern er besaß auch noch die vortreffliche Eigenschaft, daß, wo er hinkam, demselben von allen Seiten Gaben gespendet wurden, von Baum und Beerstrauch, von Backofen und Weinstock. So hatten denn diese Leute, der Menschenfresser und seine Frau, lange Jahre den Wagen, wenn auch auf unrechtmäßige Weise, besessen, hatten sich gute Eßwaaren spenden lassen, und dabei herrlich und in Freuden gelebt. Da sie nun sahen, daß sie ihres Wagens beraubt waren, machten sie sich flugs auf, den Kindern nachzueilen und ihnen die köstliche Beute wieder abzujagen. Dabei wässerte dem Menschenfresser schon der Mund nach Menschenbraten; denn die Kinder wollte er sogleich fangen und schlachten. Mit riesigen Schritten eilten die beiden Alten den Kindern nach, und wurden dieselben bald von ferne ansichtig, weil sie vorausfuhren. Die Kinder kamen jetzt an einen großen Teich, und konnten nicht weiter, auch war weder eine Fähre, noch eine Brücke da, daß sie hinüber hätten flüchten können. Nur viele Enten waren darauf zu sehen, die lustig umher schwammen. Grethchen lockte diese ans Ufer, warf ihnen Futter hin und sprach: "Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen, Macht mir ein Brückchen, daß ich hinüber kann kommen!" Da schwammen die Enten einträchtiglich zusammen, bildeten eine Brücke und die Kinder sammt Rehbock und Wagen kamen glücklich ans andere Ufer. Aber flugs hinterdrein kam auch der Menschenfresser, und brummte mit häßliches Stimme: "Ihr Entchen, ihr Entchen, schwimmt zusammen, Macht mir ein Brückchen, daß ich hinüber kann kommen!" Schnell schwammen die Entchen wieder zusammen, und trugen die beiden Alten hinüber- meint ihr? nein! in der Mitte des Teiches, da das Wasser am tiefsten war, schwammen sie auseinander und der böse Menschenfresser nebst seiner Alten plumpten in die Tiefe und kamen um. Und Hänschen und Grethchen wurden sehr wohlhabende Leute, aber sie spendeten auch von ihrem Segen den Armen viel und thaten viel Gutes, weil sie immer daran dachten wie bitter es gewesen, da sie noch arm waren und betteln gehn mußten.