Am Morgen der Gerichtsverhandlung stand Bolitho mit Tyrell und Buckle auf dem Achterdeck der Sparrow. Er war sich der vielen Augen bewußt, die ihn beobachteten, an Bord und auf den in der Nähe ankernden Schiffen. Tyrell trat unruhig von einem Bein aufs andere.»Ich mag nur als Zeuge vernommen werden, aber ich fühle mich weiß Gott mitschuldig!«murmelte er.
Bolitho beobachtete die Gig, die auf die Schanzkleidpforte zuhielt, und bemerkte, daß Stockdale und seine Rudergänger ihre besten Kleider angelegt hatten. Wahrscheinlich waren auch sie sich des Augenblicks bewußt.
Und sie hatten Grund dazu, dachte er grimmig. Zwar war Colquhoun angeklagt, aber es war auch bekannt, daß ein Ertrinkender oft noch andere mit sich in die Tiefe zog.
Sein Blick schweifte hinüber zu dem Schiff, das ungefähr drei Kabellängen entfernt vor Anker lag: die Parthian, auf der er Befehl erhalten hatte, die Soldaten und die Goldbarren General Blundells am Delaware zu retten. Wie lange das schon her zu sein schien. Eine Ewigkeit.
Die Gig wurde festgemacht, und Tyrell sagte abrupt:»Der Bastard verdient, gehängt zu werden!»
Bolitho folgte den anderen zur Schanzkleidpforte und versuchte wieder einmal, sich über seine wahren Gefühle klar zu werden. Es war schwierig, Colquhoun weiterhin zu hassen. Seine Schwäche war vielleicht allzu menschlich gewesen, was es nach dem ersten Ärger nicht leichter machte, ihn zu verdammen.
Als es acht Uhr war und die Glocken von jedem ankernden Kriegsschiff erklangen, krachte ein einzelner Kanonenschuß von der Parthian, gleichzeitig wurde die Kriegsgerichtsflagge an ihrer Gaffel gehißt. Es war Zeit.
Graves stand mit ausdruckslosem Gesicht bei den anderen, als sie in die Gig kletterten. Er war nicht betroffen, und Bolitho fragte sich, ob er vielleicht beim Anblick der Kriegsgerichtsflagge an Chancen für seine Beförderung dachte.
Sobald er die vergoldete Schanzkleidpforte der Parthian durchschritten hatte und an der Wache und der versammelten Menschenmenge vorbeigegangen war, spürte Bolitho ein Gefühl des Ekels in sich aufsteigen. Das Achterdeck des Zweideckers war mit Besuchern vollgestopft. Höhere Offiziere, einige von ihnen Militärs, verschiedene wohlhabend aussehende Zivilisten und ein einzelner Maler erweckten den Eindruck eines sorglosen Ausfluges und nicht den eines Gerichts. Der Maler, ein bärtiger, geschäftiger kleiner Mann, hielt Skizzen aus jedem Blickwinkel fest, betonte jedes Detail der Uniform und des Ranges, gönnte sich kaum eine Pause.
Er sah Bolitho und drängte sich durch die schwatzende Menge, den Skizzenblock schon gezückt.
«Kapitän Bolitho?«Der Bleistift verhielt und senkte sich dann.»Freut mich, Sie endlich zu sehen. Ich habe so viel von Ihren Heldentaten gehört. «Er hielt ein und lächelte scheu.»Ich wünschte, ich hätte an Bord Ihres Schiffes sein können, um Zeichnungen zu machen. Die Leute zu Hause müssen darüber unterrichtet werden.»
Tyrell murmelte:»Um Gottes willen!»
Ein Polizeioffizier öffnete die Tür, und die Besucher begannen, sich nach achtern in die große Kajüte zu begeben. Die Zeugen wurden auf dem Achterdeck zurückgelassen, sie fühlten sich isoliert und nicht ganz wohl in ihren besten Uniformen.
Bolitho sagte leise:»Vielleicht ein andermal.»
Er sah, wie ein Hauptmann der Seesoldaten mit gezogenem Säbel auf die Achterkabine zuging. Schon der Anblick verursachte ihm Übelkeit. Wie die Menschenmengen in Tyburn oder die hohnlachenden Dummköpfe, die stundenlang herumstanden, um zu sehen, wie so ein armer Teufel am Dorfgalgen sein Leben ließ.
Das Lächeln des Malers erstarb.»Verstehe. Ich dachte nur…»
Bolitho erwiderte:»Ich weiß, was Sie dachten. Daß es mir Vergnügen machen würde, zu sehen, wie ein Mann degradiert wird. «Er verbarg seine Verachtung nicht.
«Das auch. «Die Augen des Malers blitzten in der Sonne, als er rasch eine Änderung an seiner Skizze vornahm.»Ich dachte mir auch, daß Sie durch das Schicksal dieses Mannes bessere Chancen für Ihre eigene Zukunft sehen. «Er zuckte die Schultern, als Bolitho ihm ärgerlich den Rücken kehrte.»Daß ich mich in beiden Punkten getäuscht habe, macht mich zum Narren und Sie zu einem Menschen, der noch besser ist als sein Ruf.»
Bolitho sah ihn traurig an.»Der Ruf wird heute nicht viel zählen.»
Ein Leutnant rief:»Hier entlang, meine Herren.»
Sie folgten ihm in der Reihenfolge ihres Dienstalters in die Offiziersmesse.
Der Maler verschwand rasch in Richtung der großen Kajüte. Tyrell brummte:»Was, um alles in der Welt, geschieht mit der Welt? Werden sie auch noch vom Tag des Jüngsten Gerichts Bilder machen?»
Den ganzen Vormittag ging es ermüdend langsam weiter. Zeugen wurden aufgerufen und Aussagen gemacht. Ob es sich um Fakten oder Gerüchte handelte, um technische Vorstellungen oder Einbildung, es schien in jedem Fall eine Ewigkeit zu dauern, bis man es zu Papier gebracht hatte. Gelegentliche Pausen gestatteten es den Besuchern, sich zu erfrischen und sich die Beine auf dem Achterdeck zu vertreten.
Während des ganzen Vormittags sprach Bolitho kaum ein Wort. Um ihn herum warteten die anderen Zeugen, bis sie an die Reihe kamen: Odell vom Schoner Lucifer, dessen hastige Bewegungen die Spannung noch verstärkten. Der Erste Leutnant und der Steuermann der Bacchante. Der überlebende Leutnant von der Fawn und ein geblendeter Seemann, der neben Maulby gestanden hatte, als dieser niedergeschlagen wurde. Vertrauen oder auch Unsicherheit spiegelte sich in ihren Gesichtern.
Dem Range nach, oder wie es ihre Wichtigkeit erforderte, wurden die Zeugen aufgerufen, bis nur noch Bolitho und Tyrell übrigblieben. Durch die offenen Pforten sah Bolitho Boote zwischen den Schiffen und der Küste hin- und herfahren und den leichten Rauch von einer nahen Landzunge, wo ein Mann Treibholz verbrannte.
Es war drückend heiß, der erste Maitag. Er stellte sich vor, wie es zu Hause in Falmouth sein mußte. Manchmal dachte er, daß er es nie wiedersehen würde: kleine blasse Tupfer von Schafen auf Hügeln und Wiesen. Lärmende Kühe in dem Sträßchen vor dem Haus, immer neugierig im Vorübergehen, als ob sie die Gatter noch nie gesehen hätten. Und auf dem Marktplatz, wo die Wagen nach Plymouth beladen wurden oder die Pferde für die Route nach Westen gewechselt, würde sicherlich Lachen und gute Laune herrschen. Obwohl der Krieg eine Gefahr war, so war der Winter auch eine, und diese lag nun bis zum nächstenmal hinter ihnen. Jetzt konnten die Fischerboote sicher auslaufen, und die Felder und Märkte würden bald den Lohn für geleistete Arbeit bringen.
«Mr. Tyrell. «Der Leutnant öffnete die Tür.»Hier entlang.»
Tyrell hob seinen Hut auf und schaute ihn an.»Jetzt dauert es nicht mehr lange, Sir. «Dann war Bolitho allein.
Es dauerte wirklich nicht lange. Tyrells Aussage war rein sachlich und bezog sich vor allem auf die Zeit, in der sie die Sandbank überquerten, und auf den Beginn des Angriffs. In allen Dingen hatte er nur seinen Befehlen gehorcht. Er war rehabilitiert.
Als er aufgerufen wurde, folgte Bolitho dem Leutnant in die Kajüte, ohne daß er sich daran erinnern konnte, wie sein Name angekündigt worden war.
Sie war mit sitzenden Personen vollgestopft, und ganz achtern, hinter einem Tisch, der fast von einer Wand zur anderen reichte, sah er die Offiziere des Gerichts. Im Zentrum saß der Vorsitzende, Sir Evelyn Christie, flankiert von zehn Kapitänen verschiedenen Dienstalters und Ranges, von denen keiner Bolitho bekannt war.
Konteradmiral Christie blickte ihn kühl an.»Ihre Aussagen unter Eid wurden verlesen und zur Beweisführung vorgelegt. «Seine Stimme klang so schroff und formell, daß Bolitho plötzlich an ihr letztes Zusammentreffen erinnert wurde. Der Unterschied zu jetzt kam fast Feindseligkeit gleich.
«Wir haben von dem Plan gehört, den Franzosen zu erobern, von den Ereignissen, die zu seiner Entdeckung führten, einschließlich der Aussage des Kapitäns der Lucifer und Ihrer eigenen Offiziere. «Er hielt inne und raschelte mit Papieren.»In Ihrer Aussage gaben Sie an, daß Sie sich vor Ihrem Vorgesetzten gegen eine Aktion, wie sie dann auch durchgeführt wurde, ausgesprochen haben.»