Christie kam zu ihm und murmelte:»Schauen Sie sich das gut an, Bolitho. Ein Mann muß wissen, wem er dient, genauso wie er seine Gründe kennen muß!»
Ein Diener in grüner Livree kam ihnen am oberen Ende der Marmortreppe entgegen und wandte sich nach einem vorsichtigen Blick an die versammelten Gäste, mit einer Stimme, die einem Vortoppsgast im Ausguck alle Ehre gemacht hätte.
«Sir Evelyn Christie, Ritter des Bathordens, Konteradmiral und Oberbefehlshaber. «Er machte sich nicht die Mühe, Bolitho anzukündigen, er nahm wahrscheinlich an, daß er ein Untergebener oder Verwandter sei.
Nicht daß es einen Unterschied machte. Es gab keine Pause in der Welle des Gelächters und der Unterhaltung, und kaum jemand drehte sich um, um die Neuangekommenen zu mustern.
Christie ging flink am Rande der Menge entlang, nickte hier jemandem zu, hielt dort inne, um eine Hand zu drücken, dort verbeugte er sich vor einer Dame. Es war schwer, ihn noch in der Rolle dieses Morgens zu sehen: Vorsitzender des Gerichts. Niemandem verantwortlich, wenn er sein Urteil sprach.
Bolitho folgte der schmalen Figur des Admirals, bis sie zu einem Tisch am anderen Ende der Halle kamen. Hinter ihm und den schwitzenden Dienern konnte er eine große Rasenfläche sehen, auf der ein Brunnen im Licht der Laternen glänzte.
«Nun?«Christie wartete, bis jeder von ihnen einen schweren Becher in der Hand hielt.»Was halten Sie davon?»
Bolitho drehte sich um, betrachtete die gedrängten Gäste, hörte die Weisen eines unsichtbaren Orchesters, das gerade eine muntere Quadrille spielte. Er vermochte sich nicht vorzustellen, wie jemand überhaupt Platz zum Tanzen finden konnte.
«Es ist wie im Märchen, Sir.»
Christie betrachtete ihn amüsiert.»Paradies der Dummköpfe ist eine bessere Beschreibung!»
Bolitho kostete den Wein. Genau wie der Becher war auch er perfekt. Er entspannte sich etwas. Die Frage hatte ihn vorsichtig gemacht, aber die Antwort des Admirals hatte ihm gezeigt, daß er nicht die Absicht hatte, ihn auf die Probe zu stellen.
Christie fügte hinzu:»Eine Stadt unter Belagerung ist immer unwirklich. Sie ist vollgestopft mit Flüchtlingen und Betrügern, Händlern, die auf schnellen Gewinn aus sind und sich wenig darum kümmern, mit welcher Seite sie Handel treiben. Und wie immer in solchen Fällen gibt es zwei Armeen.»
Bolitho sah ihn an und vergaß den Lärm und die Geschäftigkeit um sich, die Verzweiflung und die Besorgnis von heute und morgen. Wie er von Anfang an angenommen hatte, verbarg Christies nüchterne Erscheinung einen messerscharfen Verstand. Einen Verstand, der jede Anklage und jedes Problem genau untersuchte und gegeneinander abwog, alles Überflüssige aufdeckte.
«Zwei Armeen, Sir?»
Der Admiral verlangte zwei neue Becher.»Trinken Sie aus. Sie werden nirgends einen solchen Wein finden. Ja, wir haben die Militärs, die jeden Tag dem Feind ins Auge blicken, seine schwachen Stellen aufspüren oder versuchen, seinen Angriffen standzuhalten. Soldaten, die immer auf den Beinen sind, keine sauberen Betten und kein gutes Essen kennen. «Er lächelte traurig.»So wie diejenigen, die Sie in der Delaware Bay gerettet haben. Wirkliche Soldaten.»
«Und die anderen?»
Christie schnitt eine Grimasse.»Hinter jeder großen Armee gibt es eine Organisation. «Er zeigte auf die Menge.»Die Militärregierung, das Sekretariat, und Kaufleute, die von den Kämpfen leben wie Blutsauger.»
Bolitho betrachtete die durcheinanderwogenden Menschen vor dem Alkoven mit wachsender Unsicherheit. Er hatte schon immer Menschen der beschriebenen Art mißtraut, aber es schien unmöglich, daß alles so widerlich, so unehrlich sein sollte, wie der Admiral gesagt hatte. Und doch… Er dachte an die fröhlich durcheinanderredenden Besucher beim Kriegsgericht. Zeugen der Schande eines Mannes, die dies jedoch nur als Mittel betrachteten, der Langeweile ihrer eigenen Welt zu entfliehen.
Christie beobachtete ihn nachdenklich.»Gott allein weiß, wie dieser Krieg enden wird. Wir bekämpfen zu viele Feinde auf einem zu großen Teil der Welt, um einen spektakulären Sieg erhoffen zu können. Sie aber, und solche wie Sie, müssen gewarnt werden, wenn wir noch die Chance der Ehre haben sollen.»
Der Wein war stark, und die Hitze in der Halle trug dazu bei, daß Bolitho alle Vorsicht fahren ließ.
«Sir Evelyn, sicherlich müssen doch hier in New York, nach allem was seit der Rebellion geschehen ist, alle sich über die wirklichen Tatsachen im klaren sein?»
Christie zuckte müde die Schultern.»Der Generalstab ist zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um sich darum zu kümmern, was hier geschieht. Und der Gouverneur, wenn wir ihn so nennen dürfen, verbringt zuviel Zeit damit, kichernde junge Mädchen zu jagen und sich über seinen wachsenden Reichtum zu freuen, so daß er nicht den Wunsch hat, die Dinge zu ändern. Er war früher Quartiermacher bei der Armee, also ein ausgebildeter Dieb, und er wird gekonnt unterstützt von einem Gouverneursleutnant, der früher Zollbeamter in einer Stadt war, die man nur für ihren Schmuggel kannte!«Er kicherte.»Diese beiden haben New York zu ihrem eigenen Nutzen mit Beschlag belegt. Kein Händler oder Kapitän eines Handelsschiffes kann kommen oder gehen ohne Erlaubnis. New York ist vollgestopft mit Flüchtlingen, und der Gouverneur hat bestimmt, daß die Gelder der Stadt, der Kirche und der Schulen in einem Fonds gesammelt werden sollen, um ihnen ihr Los zu erleichtern.»
Bolitho runzelte die Stirn.»Aber das war doch sicherlich in gutem Glauben gehandelt?»
«Vielleicht. Aber das meiste davon ist vertan worden. Bälle und Tanzveranstaltungen, Empfänge wie dieser, Geliebte und Huren, Schmarotzer und Favoriten. Dies alles kostet eine Menge Geld.«»Ich verstehe.»
In Wirklichkeit verstand er nicht. Wenn er an sein Schiff dachte, das tägliche Risiko von Verletzung oder Tod und den geringen Komfort, die Art und Weise, mit der jeder kämpfende Mann dem Feind ins Auge sah, dann war er entsetzt.
Christie sagte:»Bei mir steht die Pflicht an allererster Stelle. Ich würde jeden hängen, der anders handelt. Aber diese…«Er verbarg seine Verachtung nicht.»Diese Schmarotzer verdienen keine Loyalität. Wenn wir schon einen Krieg durchkämpfen müssen, dann sollten wir uns wenigstens vergewissern, daß sie keinen Gewinn aus unserem Opfer ziehen!»
Dann lächelte er, die plötzliche Entspannung der Linien um seine Augen und den Mund veränderte ihn aufs Neue.
«Nun, Bolitho, haben Sie die nächste Lektion gelernt? Zuerst verschaffen Sie sich Respekt, dann ein Kommando. Dann erhalten Sie den Befehl über mehr und größere Schiffe. Das ist der Ehrgeiz, ohne den für mich kein Offizier einen Pfifferling wert ist. «Er gähnte.»Ich muß jetzt gehen. «Er hielt ihm die Hand hin.»Bleiben Sie noch ein bißchen, und setzen Sie Ihre Erziehung fort.»
«Werden Sie nicht bleiben, um den Gouverneur zu treffen, Sir?«Etwas wie Panik bei dem Gedanken, alleingelassen zu werden, ließ ihn seine Gefühle zeigen.
Christie lächelte.»Niemand wird ihn heute abend treffen. Er befaßt sich mit diesen Angelegenheiten nur, um alte Schulden zu bezahlen und um sein Süppchen am Kochen zu halten. «Er winkte einem Dienstmann.»Amüsieren Sie sich gut, Sie haben es verdient, obwohl ich glaube, Sie wären lieber in London, oder?»
Bolitho grinste.»Nicht in London, Sir.»
«Natürlich. «Der Admiral sah den Dienstmann mit seinem Hut und Mantel herankommen.»Ein Sohn der Erde. Das hatte ich vergessen. «Mit einem Nicken verschwand er durch die Tür und war schnell in den tiefen Schatten auf dem Rasen verschwunden.
Bolitho fand einen freien Platz am Ende des Tisches und versuchte sich schlüssig zu werden, was er essen sollte. Er mußte etwas essen, denn der Wein wirkte zu stark. Er fühlte sich ungewöhnlich leicht und beschwingt, daran war aber nicht nur der Wein schuld. Indem er ihn sich selbst überließ, hatte der Admiral ihm die Möglichkeit gegeben, zu handeln und zu denken, wie er wollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß dies jemals vorher geschehen war.