«Kurs liegt an, Sir, genau Ost!»
Bolitho warf einen Blick auf den Kompaß und prüfte sorgfältig den Trimm der Segel. Jeder Zoll des Tuchs war voll gespannt, die Wölbungen so rund und straff, daß sie zu bersten schienen.
Er winkte mit dem Fernglas.»Noch einen Pull an der Backbordbrasse der Fock, Mr. Tyrell. Lassen Sie dann belegen!»
Während die Männer herbeiliefen, um den Befehl auszuführen, blickte er wieder zurück. Schon als sie noch aus der Bucht herauskreuzten, hatte der Feind aufgeholt. Die Sparrow hatte viel Zeit verloren, um sich von der Landspitze freizusegeln. Bolitho legte sein Fernglas auf der Reling auf. Ihr Verfolger stob und stampfte über die sprühenden Wellenkämme. Die Fregatte war in fliegenden Gischt gehüllt, und die See wusch bis zu ihren Geschützpforten hinauf, während sie auf Steuerbordbug dahinraste und ihren schlanken Rumpf und die Pyramiden ihrer vollen Segel zeigte. Sobald sie die offene See erreicht hatte, setzte sie die Royals und hielt nun auf tieferes Wasser zu, bevor sie die Jagd wieder aufnahm.
Tyrell kam nach achtern und schüttelte die Salzwasserspritzer von seinen Armen und aus seinem Gesicht.
«Wir liegen genau vorm Wind, im Augenblick können wir nichts weiter tun.»
Bolitho antwortete nicht. Vom Achterdeck aus blickte er über die unregelmäßigen Reihen verwundeter Soldaten hin. Andere, die weniger schwer verletzt waren, halfen beim Verbinden der Wunden und schleppten Essen herbei. Zwei Assistenten Dalkeiths stiegen an Deck, warfen ein Bündel über Bord und verschwanden wieder in einem Niedergang, ohne sich umzusehen. Bolitho sah das Bündel im Schaum des Kielwassers davontreiben. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es hatte wie durchblutete Verbände ausgesehen, doch war es wohl ein amputiertes Glied irgendeines glücklosen Soldaten gewesen. Seit die Korvette Anker gelichtet hatte, war Dalkeith nicht aus seinem behelfsmäßigen Schiffslazarett aufgetaucht. In fast völliger Dunkelheit arbeitete er mit Tupfern und Säge, während das Schiff stampfte und rollte.
Durch das Brausen des Windes gellte Graves' Stimme:»Der Franzose hat geschiftet, Sir!»
Die Fregatte lag nun ungefähr acht Kabellängen steuerbord querab, mehr war es bestimmt nicht. Sie segelte parallel zur Sparrow. Ihre Royals waren Vierkant gebrasst und zerrten in ihren Lieken wie bleiche Brustpanzer.
«Sie holt auf, Mr. Tyrell«, sagte Bolitho,»zwar nicht sehr schnell, aber doch genug, um uns in Verlegenheit zu bringen.»
Tyrell stützte sich auf die Reling. Seine Augen waren nach vorn gerichtet, ohne sich um den Feind zu kümmern.
«Soll ich klar Schiff zum Gefecht befehlen, Sir?»
Bolitho schüttelte seinen Kopf.»Wir können nicht. Jeder freie Platz im Schiff ist von Soldaten belegt. Auf dem Geschützdeck ist kaum Platz für den Rückstoß eines Zwölfpfünders. «Er dachte an die großen Zweiunddreißigpfünder, die zu beiden Seiten des Bugs aufgestellt waren.
Da der Feind von achtern auflief, waren sie nutzlos und nur eine zusätzliche Belastung für das Schiff. Wäre der Feind in ihrem Schußbereich gefahren, so hätten sie ihn wenigstens vorübergehend in Schach halten können, so lange, bis ein Schiff des Küstengeschwaders zu Hilfe gekommen wäre.
Tyrell schaute ihn besorgt an.»Sie haben die Wahl, Sir. Entweder Sie fahren jetzt an der Küste entlang und riskieren, daß der Wind Sie vollkommen im Stich läßt, oder Sie ändern in etwa einer Stunde den Kurs seewärts.»
Er stemmte die Hüfte gegen die Reling, als die Sparrow stark rollte. Der Gischt stob über die Decks und prasselte gegen die untersten Segel wie Bleischrot.
«Es verläuft hier ein langer Rücken von Sandbänken von Nord nach Süd. Sie können auf der äußeren oder inneren Seite entlang segeln. Aber in einer Stunde müssen Sie sich entscheiden.»
Bolitho nickte. Selbst die mangelhafte Kenntnis des Seegebietes, die er aus seinen Karten entnommen hatte, bewies, daß Tyrell nur zu recht hatte. Die Untiefen erstreckten sich wie ungleichmäßige Buckel auf etwa zwanzig Meilen quer über seine Kursrichtung. Würde er über Stag gehen, um die Sandbänke zu meiden, bedeutete dies Zeitverlust, und da der Feind schon so nahe kam, war es zu gefährlich.
Tyrell rieb sein Kinn.»Wir könnten abwarten, was der Franzose zu tun gedenkt. Aber für uns wäre es dann zu spät. «Hilflos zuckte er die Achseln.»Es tut mir leid, Sir. Ich bin auch keine große Hilfe für Sie.»
Bolitho starrte an ihm vorbei zum Land hinüber. Die Küste fiel, sich nach Nordost wendend, zurück. Die Entfernung, etwa zehn oder fünfzehn Meilen, war im hellen Sonnenglanz und tieftreibenden Seedunst schwer abzuschätzen.
«Sie haben schon sehr viel geholfen.»
Er kehrte zum Kompaß zurück und bemerkte, daß Buckle ihn grimmig anblickte. Das Gelächter, die plötzliche Entspannung, als sie von Land freikamen, waren vorbei. Aus dem Gerücht von einem irgendwo liegenden Schiff war eine wirkliche, tödliche Bedrohung durch die Reihe feindlicher Geschützpforten geworden.
«Wahrschau an Deck! Segel steuerbord voraus!»
Aufgeregt zischte Graves:»Das Geschwader, bei Gott, jetzt wird es besser!»
Ein paar Augenblicke später:»Deck! Es ist ein Lugger, Sir. Läuft ab!»
Bolitho verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Irgendein furchtsamer Kauffahrer. Kein Zweifel! Bliebe er in Sicht, würde er innerhalb einer Stunde Zeuge eines ungleichen, einseitigen Kampfes sein.
«Der Franzose hat seinen Kurs etwas geändert!»
Buckle spähte durch sein Teleskop achteraus.
«Er braßt seine Rahen an.»
Bolitho zählte die Sekunden und wartete. Die Fregatte war aus ihrem ursprünglichen Kurs gelaufen. In jagender Geschwindigkeit drehte sie ganz leicht vom Parallelkurs ab. Bolithos Körper spannte sich, als er den Puff braunen Rauches sah, der sofort im achterlichen Wind davontrieb.
Das schwere Geschoß klatschte etwa eine Kabellänge zu kurz in die See. Eine Wasserfontäne stob auf wie von einem blasenden Wal.
Bolitho wollte das Freudengebrüll seiner Leute nicht hören. Was immer sie glauben mochten, es war ein einwandfreier Schuß. Die Fregatte hatte mit einem schweren Geschütz, das etwa seinen eigenen Buggeschützen gleichen mochte, fast zwei Meilen weit geschossen.
Foley tauchte an seiner Seite auf.»Ich habe den Abschuß gehört. «Er beschattete seine Augen und spähte über das Schanzkleid.»Er will Sie entnerven.»
Bolitho lächelte ernst.»Oh, er will noch viel mehr, Oberst.»
Er hörte schwere Schritte auf dem Achterdeck und entdeckte Dalkeith, der mit trüben Augen in die Sonne blinzelte und mit einem großen Taschentuch sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Der Arzt hatte seine schwere Schürze abgelegt, aber Beine und Schuhe waren voll dunkler, noch feuchter Flecken.
Mit ein paar kurzen Worten gab er Bolitho seinen Bericht.»Das wärs für den Augenblick, Sir. Zehn Mann sind gestorben, aber ich fürchte, daß ihnen noch einige folgen werden.»
Voll Bewunderung sagte Foley:»Danke, Mr. Dalkeith, besser, als ich zu hoffen wagte.»
Alle drehten sich um, als wieder ein dumpfer Knall über die weißen Wogenkämme hallte. Der Einschlag lag näher und auf gleicher Höhe mit der Steuerbordseite.
Dalkeith zuckte die Achseln.»Auf festem Boden hätte ich vielleicht mehr retten können, Oberst.»
Er wandte sich ab und ging zur Reling. Seine Schultern waren wie unter einer großen Last gebeugt, und die Perücke saß ihm schief auf dem Kopf.
«Ein guter Chirurg«, sagte Bolitho.»Gewöhnlich heuern nur Taugenichtse oder Trunkenbolde an. Er ist keines von beiden.»