«Mr. Starkie hat anscheinend recht. Unser Gegner ist wütend.»
Vorgeneigt, um die steile Krängung des Decks auszugleichen, schritt Starkie nach Luv hinüber.
«Ich halte sie so dicht vorm Wind, wie ich riskieren kann. Noch ein Strich mehr, dann läßt sie sich nicht mehr steuern.»
Bolitho nahm ein Fernglas aus der Halterung und richtete es auf das Land. Als er im Gewirr der vibrierenden Wanten und Falleinen einen Stützpunkt suchte, sah er, wie die bleichen Gesichter einiger Matrosen sich ihm zuwandten was mochten sie wohl denken, jetzt, da die Brigg Kurs auf die Küste nahm, ausgerechnet dorthin, wo ihre Leiden und Demütigungen begonnen hatten?
Da bekam er die Landspitze ins Blickfeld, die aus der kochenden Brandung wie der Schnabel einer römischen Galeere herausragte. Wie anders war der Anblick vom Kutter aus gewesen, und wie lange war das her! Er mußte sich zusammenreißen, um sich darüber klarzuwerden, daß es erst gestern gewesen war.
Die See war rauher geworden und, vom böigen Wind getrieben, wirbelte sie durch ein Kollier von Klippen, die alles zu vernichten drohten, was in ihre Nähe geriet.
Ein dumpfer Krach; als Bolitho sich nach der Fregatte umblickte, sah er einen dunklen Rauchschwaden, den eine Bö vor sich hertrieb.
«Das ist nur ein Versuchsschuß«, sagte Starkie,»die Fregatte segelt viel zu unruhig, um uns auf diese Entfernung zu treffen.»
Bolitho antwortete nicht und beobachtete, wie die mächtige Fock der Fregatte flatterte und stieß, als der Kapitän das Schiff durch den Wind gehen ließ. Es war noch nicht ganz auf dem anderen Bug, da hatten sich die Focksegel schon wieder gestrafft, und es krängte so stark, daß die Stückpforten auf der Leeseite die Wasseroberfläche schnitten.
«Sie kommt achterlich querab auf, Dick«, sagte Dancer.
«Ja. Sie will uns den Wind abschneiden. «Er starrte so angestrengt auf die Fregatte, daß ihm das Wasser schmerzhaft in die Augen schoß.»Aber das bedeutet, daß sie dichter als wir an der Küste sein wird, wenn wir die Landspitze passieren.»
Dancer starrte ihn an.»Können wir da wirklich durch?»
Starkie hatte das gehört und rief:»Nächstens werden Sie noch verlangen, daß wir auf dem Wasser wandeln wie der Herr Jesus!«Er faßte mit ins Steuerrad und half den Rudergasten, den Gegendruck zu verstärken.»Kurs halten, verdammt noch mal!»
Noch ein Krachen. Diesmal sah Bolitho den Schaum fedrig über die Wellenkämme sprühen: die Kugel flippte achtern vorbei.
Ein Blick auf die Sechspfünder der Sandpiper. Sehr nützlich für einen raschen Überfall auf ein feindliches Kauffahrteischiff oder bei der Verfolgung von Piraten und Schmugglern.
Aber gegen eine Fregatte waren sie nutzlos.
«Schick noch einen guten Mann in den Ausguck, Martyn. «Er taumelte, als das Deck in einem plötzlichen Wellental ins Schüttern geriet.»Vielleicht kommt die Gorgon in Sicht.»
Aber von dem mächtigen Vierundsiebziger war weit und breit keine Spur zu sehen. Nur die Fregatte, die sie verfolgte, und auf der Gegenseite der Bucht tauchte eben die Insel auf.
Wie gestern lag sie bleich und seltsam still in der Morgensonne; nur schwer konnte man glauben, was alles dort passiert war. Starkie hatte vorhin berichtet, daß die Insel auch jetzt noch voller Sklaven war, arme Teufel, Männer und junge Mädchen, welche die Händler aus allen möglichen Gegenden Afrikas hingeschafft hatten. Und in absehbarer Zeit würden viele von ihnen auf dem Weg nach Amerika und Indien sein. Wenn sie Glück hatten, mochten sie dort ein halbwegs erträgliches Leben führen, nicht wie Gefangene, sondern eher wie abhängige Diener. Aber die weniger Glücklichen würden wie Tiere leben müssen. Wenn sie nichts mehr taugten, würde man sie einfach umkommen lassen.
Bolitho hatte gehört, daß man Sklavenschiffe, ähnlich wie die Rudergaleeren, schon von weitem an ihrem furchtbaren Gestank erkannte: der charakteristische Geruch, der entsteht, wenn viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind und sich nicht bewegen, nicht sauberhalten können.
Bang. Eine Kanonenkugel zischte über das Schiff und fuhr durch das Vormarssegel wie eine eiserne Faust.
«Das war schon näher!«Starkie hatte die Daumen im Gürtel und ließ die Fregatte nicht aus den Augen.»Sie kommt jetzt schneller auf.»
«Deck ahoi! Brecher in Lee voraus!»
Starkie eilte zur Reling und griff nach einem Fernglas.»Aye, da sind sie. Die erste Reihe der Riffe. «Er wandte sich nach den Rudergasten um.»Luv an einen Strich!»
Das Rad knirschte und die Oberbramsegel flappten protestierend.
«Süd zu Ost, Sir!»
«Recht so!»
Bolitho merkte an der schwieriger werdenden Fahrt und an dem wütenden Erzittern jeder Spiere und jedes Segels, daß sie jetzt in flacheres Wasser kamen und dabei eine starke Gegenströmung kreuzten.
«Wir sollten lieber Segel kürzen«, sagte Starkie. Bolitho blickte ihn an und sagte beschwörend:»Wenn wir das tun, erwischt er uns, bevor es für ihn gefährlich wird!»
«Wie Sie meinen«, erwiderte der Bootsmannsmaat ungerührt.
Da kam Eden den Niedergang hochgeklettert; ängstlich suchten seine Augen achtern nach dem Feind.
«Mr. Hope verlangt nach d-dir, Dick. «Er duckte sich, als eine Kugel aus dem Buggeschütz der Fregatte dicht vorbeiflog und eine Fontäne hochjagte wie von einem blasenden Wal.
Bolitho nickte.»Ich gehe rauf. Rufen Sie mich, wenn sich was tut.»
Durch das Fernrohr beobachtete Starkie die vorderste Brecherlinie.
Dadurch, daß er das Schiff eine Kleinigkeit hatte abfallen lassen, zeigte das Bugspriet mit seinem auf- und abschwankenden Klüverbaum fast genau auf die gefahr-verkündende Brandung.
«Keine Sorge«, rief er über die Schulter,»Sie werden's schon merken.»
Unten tastete sich Bolitho zu der winzigen Kajüte hin. Mit unnatürlich glänzenden Augen lag Hope auf dem Rücken in der Koje. Bolitho beugte sich über ihn.
«Der Vierte ist krank, höre ich?«flüsterte Hope. Sein Gesicht war aschgrau.»Hol ihn der Teufel, warum hat er so spät eingegriffen?«Seine Gedanken schweiften ab; undeutlich murmelte er:»Meine Schulter! O Gott, sie werden mir den Arm abnehmen, wenn wir wieder auf dem Schiff sind. «Schmerz und Verzweiflung schienen ihn dann wieder zur Besinnung zu bringen.»Werden Sie's schaffen?»
Bolitho zwang sich ein Lächeln ab.»Wir haben einen guten Steuermann an Deck, Sir. Und Mr. Dancer und ich bemühen uns, wie alte Seeleute auszusehen.»
Die feuchte Luft in der Kajüte erzitterte von einem neuen dumpfen Krach, und Bolitho spürte, wie der Schiffsrumpf in allen Fugen bebte: eine Kugel hatte längsseits ganz nahe eingeschlagen. Zu nahe.
«Sie können sich doch nicht mit einer Fregatte in ein Gefecht einlassen!«keuchte Hope.
«Wollen Sie, daß ich die Flagge streiche, Sir?»
«Nein!«Er schloß die Augen und stöhnte vor Schmerzen.»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich an Deck sein müßte und Ihnen helfen — irgendwas tun. Statt dessen. .»
Bolitho konnte jetzt noch besser verstehen, wie verzweifelt der Leutnant war. Der Fünfte stand ihm näher als die anderen Offiziere. Hope hatte zwar immer so getan, als seien ihm die Midshipmen außerdienstlich ganz gleichgültig, und hatte sich sogar bemüht, äußerlich möglichst hart zu erscheinen; das streifte manchmal sogar die Grenze der Brutalität. Aber in dem ständigen Zusammensein hatte sich doch herausgestellt, daß seine unfreundliche Kritik manchmal notwendig und oft sogar wohltätig war, ganz im Sinne seines Lieblingsausspruchs: «Dieses Schiff braucht Offiziere, keine Kinder.»
Und nun lag er da, hilflos und gebrochen. Ruhig sagte Bolitho:»Ich komme mir Ihren Rat holen, so oft ich kann, Sir.»
Aus der blutbefleckten Koje streckte sich ihm eine Hand entgegen und faßte die seine.»Danke. «Hope konnte kaum noch richtig sehen.»Gott sei mit Ihnen.»
«Hallo da unten!«Das war Dancer.»Die Fregatte rennt ihre Steuerbordgeschütze aus!»