Bolitho wußte Bescheid und mußte lächeln. Auf einem Linienschiff war die Beförderung immer schwierig, besonders wenn kein Krieg war, der die Rangliste ausdünnte. Als Fünfter Leutnant hatte Hope in der Offiziersmesse nur noch einen Dienstjüngeren; und so lange nicht die Leutnants über ihm befördert wurden, auf ein anderes Schiff kamen oder im Kampf fielen, würde er sich mit seinem Avancement schwer tun.
Dancer flüsterte ihm ins Ohr:»Auf dem Flaggschiff hatten wir einen Sechsten Leutnant, der war so verzweifelt, daß er Flöte spielen lernte, bloß weil die Frau des Admirals etwas für Flötenmusik übrig hatte.»
Schweigend folgten sie dem Messeältesten über die erste Niedergangstreppe ins Zwischendeck, und dann weiter ins nächsttiefere Deck. Je tiefer sie in den Bauch des Schiffes hinabstiegen, um so voller und enger schien es zu werden. Überall schattenhafte Gestalten, gesichtslos und unwirklich im Halbdunkel; mit gebeugten Köpfen duckten sie sich unter den Decksbalken und wichen dem sorgfältig weggestauten Geschirr für jedes einzelne, festverblockte Geschütz aus. Eine wahre Wand von Gerüchen stieg vor ihnen auf: Salzfleisch und Teer, Bilgewasser und zusammengepferchte Menschen; und dabei krachte und knirschte der feste Schiffsrumpf, der sie umschloß, wie ein lebendes Wesen, die Laternen an der Decke kreisten und warfen Schatten auf die mächtigen Balken und die Seeleute. Das Ganze wirkte wie ein riesiges Gemälde.
Das Midshipmen-Logis befand sich im Orlopdeck, also noch unter dem Geschützdeck, sogar unter der Wasserlinie. Das einzige Licht kam vom Niedergang her und von den schwingenden Laternen.
«Hier ist es«, sagte Grenfell beiläufig.»Außer uns wohnen auch noch die Steuermannsobermaaten hier. «Er zog eine Grimasse zu einem weißgestrichenen Wandschirm hin.»Die allerdings halten sich für was Besseres und wollen mit uns nichts zu tun haben.»
Bolitho warf einen Blick auf seine Kameraden. Unschwer konnte er sich ihre Gefühle vorstellen. Er erinnerte sich daran, was er selbst in seinen ersten Stunden an Bord durchgemacht hatte. Damals hätte er alles mögliche für ein freundliches Wort im rechten Augenblick gegeben.
«Sieht sehr gut aus«, sagte er.»Besser als in meinem vorigen Schiff.»
«Tatsächlich?«fragte der kleine Eden ungläubig.
Grenfell lächelte.»Kommt bloß darauf an, was ihr daraus macht. «Er wandte sich um, als eine winzige Gestalt durch die Tür stolperte.»Das ist euer Messejunge. Starr heißt er, und er redet nicht viel. Sagt ihm nur, was ihr braucht; ich arrangiere das dann mit dem Zahlmeister.»
Starr war sogar noch jünger als Eden. Zehn Jahre vielleicht, und klein für sein Alter. Er hatte das verkniffene Gesicht eines Kindes aus den Slums, und seine Arme waren dünn wie Stöcke.
«Wo kommst du her?«fragte Bolitho freundlich.
Der Junge sah ihn mißtrauisch an.»Aus Newcastle, Sir. Mein Alter war da Bergmann. Ist bei 'm Schlagwetter umgekommen. «Seine Stimme klang tonlos, als spräche er aus einer anderen Welt.
«Und dich bringe ich auch um, wenn du meine Hemden so behandelst wie das hier!»
Bolitho wandte sich nach dem Sprechenden um. Ein Midshipman, rot im Gesicht von Wind und Regen, trat unter den niedrigen Decksbalken. Er und Grenfell gehörten offensichtlich zu den drei Midshipmen, die vom letzten Schwung übriggeblieben waren und nun auf die Gelegenheit warteten, ihr Leutnantsexamen abzulegen.
Der junge Mann war schlechter Laune und sah aus wie jemand, der von Geburt an gewohnt ist zu befehlen — hübsch und arrogant.
«Sachte, Samuel«, sagte Grenfell.»Hier sind die Neuen.»
Dem anderen wurde anscheinend klar, daß er auf die verwirrten Neuankömmlinge etwas Rücksicht nehmen mußte.
«Ich bin Samuel Marrack. Signal-Midshipman und Kapitänsläufer.»
«Das hört sich ja sehr bedeutend an«, sagte Dancer.
Marrack war anscheinend beleidigt.»Ist es auch! Und wenn ihr vor unserem illustren Kapitän erscheint, dann am besten in einem sauberen Hemd. «Er führte mit seinem Hut einen raschen Hieb nach dem kleinen Diener und fügte hinzu:»Also merk dir das für die Zukunft, du Hund!«Damit warf er sich auf eine Seekiste.»Bring mir Wein!«befahl er.»Ich bin staubtrocken.»
Bolitho setzte sich neben Dancer und sah zu, wie die anderen, ziellos wie Blinde, ihre Seekisten auf- und zuklappten. Er hatte gehofft, auf eine Fregatte kommandiert zu werden wie sein Bruder; auf ein Schiff, das, frei von der drückenden unmittelbaren Befehlsgewalt eines Admirals, imstande war, größte Entfernungen in einem Drittel der Zeit zurückzulegen, welche die gewichtige Gorgon dazu brauchte. Auf einer Fregatte hätte er vielleicht die Abenteuer erleben können, von denen er so oft träumte.
Aber nun war seine Heimat die Gorgon, und er mußte das Beste daraus machen, solange die Königliche Marine es befahl. Ein Linienschiff.
II Kurs Afrika
«Alle Mann! Alle Mann aufentern zum Segelreffen!«Unaufhörlich schrillten die Bootsmannspfeifen, bis der Befehl um das ganze Deck gegangen war — es klang wie Dämonengekreisch in einem bösen, endlosen Traum, bis das ganze Schiff unter den trampelnden Füßen erzitterte, die Freiwache an Deck kam und sich in rasender Eile zur Musterung auf die Stationen verteilte.
Bolitho schüttelte Dancer so kräftig an der Schulter, daß dieser beinahe aus der Hängematte gefallen wäre.
«Raus, Martyn! Wir kürzen schon wieder Segel!»
Er wartete, bis Dancer Schuhe und Jacke übergestreift hatte, und dann rannten sie beide zum nächsten Niedergang. Drei, fast vier Tage ging es nun schon so. Seit dem Ankerlichten, seit das Schiff die Passage durch den Ärmelkanal mit Kurs auf den Atlantik begonnen hatte, wurden auf dem mächtigen Vierundsiebziger die Segel unaufhörlich gesetzt, gerefft, wieder gesetzt, wieder gerefft — es hörte überhaupt nicht auf. Müde Leiber zogen sich in den Wanten hinauf bis zu den vibrierenden Rahen; ständig hetzte und trieb sie die Stimme des Ersten vom Achterdeck. Auch das gehörte zu dem bösen Traum, denn Verling mußte, damit seine Orders inmitten der brüllenden Wogen zu verstehen waren, ein Sprachrohr benutzen, und dadurch wurde seine an sich schon scharfe Stimme noch fremdartiger und wie ein Stachel für die keuchenden Midshipmen.
Für die neuen Matrosen war es noch schlimmer. Ein Mishipman galt schon sehr wenig auf einem Schiff des Königs. Aber der einfache Matrose galt überhaupt nichts.
Ein Nachlassen der Disziplin konnte, etwa wenn das Schiff bei starkem Wind über Stag ging, verhängnisvoll sein, das wußte Bolitho ganz genau. Und doch machte es ihn krank, wenn er sah, mit welch unnötiger Brutalität ein Mann behandelt wurde, der bei seiner Arbeit hoch über Deck vielleicht nur vor lauter Angst nicht gleich begriff, was die da unten überhaupt von ihm wollten.
Es war genauso wie beim letztenmal. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber irgendwo in den tieferen Wolkenlagen schimmerte ein bleicher Fleck von etwas hellerem Grau. Jedoch für jemanden, der in die Wanten hinauf mußte, war das Licht mächtig knapp. Ungeduldig traten die Leutnants von einem Fuß auf den anderen, während die Deckoffiziere und Maaten an jedem Mast ihre Namenslisten kontrollierten. Die Seesoldaten standen achtern in einem Haufen bei den Großmastbrassen und rutschten ständig mit ihren Stiefeln auf den nassen Planken aus; der Erste Leutnant rannte an der Reling auf und ab und schwenkte seine Sprechtrompete, um auf diese oder jene Einzelheit noch besonders hinzuweisen.
Bolitho spähte nach achtern zu dem großen doppelten Steuerrad, dessen Speichen vier Rudergasten umklammert hielten — wahrscheinlich, dachte er, lief noch eine starke Dünung gegen Ruder und Segel an. Neben ihm stand der alte Turnbull, der Segelmeister, formlos in seinem schweren Ölzeug; mit lebhaften Bewegungen der krebsroten Fäuste gab er seinen Maaten Anweisungen.