Richard Bolitho war groß für sein Alter und schlank. Sein Haar war so schwarz, daß sein wettergebräuntes Gesicht fast bleich dagegen wirkte. In seinem Peajacket, das er sich vor achtzehn Monaten gekauft und seitdem bei jedem Wetter getragen hatte, glich er mehr einem Vagabunden als einem Offizier des Königs. Er fuhr zusammen, als er plötzlich gewahr wurde, daß der Kapitän zu ihm sprach.
«Also, Mr. Midshipman, äh, Bolitho, auf Grund unvorhergesehener Umstände muß ich mich anscheinend auf Ihre Fähigkeiten bei der Unterstützung meines Schreibers verlassen, bis Mr. Marrack sich von seiner, äh, Verletzung erholt hat. «Er musterte Bolitho gleichmütig.»Was für Dienst tun Sie auf meinem Schiff?»
«Unteres Geschützdeck, Sir, und Segelausbildung in Mr. Hopes Abteilung.»
«Weder das eine noch das andere erfordern, daß Sie wie ein Dandy aussehen, Mr., äh, Bolitho; aber an Bord meines Schiffes haben alle Offiziere ein untadeliges Beispiel zu geben; und wohin dieses Schiff Sie auch trägt, Sie repräsentieren nicht nur die Königliche Marine, sondern Sie sind die Königliche Marine!»
«Ich verstehe, Sir«, setzte Bolitho an.»Wir waren in den Rahen zum Segelbergen, Sir, und. .»
«Ja.«Über das Gesicht des Kapitäns flog der Schatten eines bitteren Lächelns.»Das habe ich befohlen. Ich war mehrere Stunden an Deck, bevor ich die Entscheidung traf, daß es tatsächlich nötig war. «Er zog eine schmale goldene Uhr aus der Hosentasche.»Gehen Sie in Ihr Logis im Orlopdeck und bringen Sie sich in Ordnung. Ich wünsche, daß Sie in zehn Minuten wieder achtern sind. «Er ließ die Uhr zuschnappen.»In genau zehn Minuten.»
Es wurden die kürzesten zehn Minuten, an die sich Bolitho erinnern konnte. Starr und Midshipman Dancer halfen ihm; der Pechvogel Eden, dem ausgerechnet in diesem Moment wieder schlecht wurde, lief ihm ständig zwischen die Beine; aber schließlich war er wieder auf dem Weg nach achtern und stand bald vor demselben Posten. In der Kajüte jedoch drängten sich bereits die Besucher: Leutnants mit Fragen und Meldungen über Sturmschäden. Der Steuermann, der, soweit Bolitho verstand, entweder für oder gegen die eventuelle Beförderung einer seiner Maate war. Major Dewar von der Marine-Infanterie, mit Kinnbacken so scharlachrot wie seine Uniform. Und sogar der Schiffs-Zahlmeister, ein richtiges Wiesel von einem Mann. Sie alle sprachen beim Kapitän vor. Und das schon kurz nach Sonnenaufgang.
Ohne weitere Umstände wies der Schreiber Bolitho an einen kleinen Tisch bei den Heckfenstern, an die Spritzwasser und Regen klatschten. Draußen, hinter den dicken Glasscheiben, rollte die dunkelgraue See, und jede Woge hatte einen langen Schaumstreifen auf ihrem Kamm. Ein Schwarm Möwen umkreiste in lebhaftem Auf und Ab den hohen Achtersteven der Gorgon; offenbar warteten sie darauf, daß der Koch etwas Eßbares aus dem Fenster warf. Bolitho spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Da würden sie kein Glück haben, dachte er. Der Koch und der geizige Zahlmeister beide würden kaum einen Krümel für die Möwen übriglassen.
Er hörte, daß der Kapitän mit Laidlaw, dem Schiffsarzt, das Frischwasserproblem erörterte, und speziell die Frage, ob die leeren Fässer gespült werden sollten, um sie zu desinfizieren.
Der Schiffsarzt war ein müde aussehender Mann mit tiefliegenden, von starken Brauen überhangenen Augen, der sich ständig etwas gebeugt hielt. Ob das daher kam, daß er zu lange auf kleinen Schiffen gefahren war, oder weil er sich dauernd über seine unglücklichen Opfer beugen mußte darüber konnte Bolitho nur Vermutungen anstellen.
Er sagte eben:»Es ist ein übler Küstenstrich, Sir. «Und der Kapitän erwiderte scharf:»Das weiß ich, verdammt noch mal. Aber schließlich segle ich das Schiff und seine ganze Mannschaft nicht deswegen nach Westafrika, weil ich ausprobieren will, wie gut Sie Krankheiten heilen können.»
Der Schreiber beugte sich über den kleinen Tisch. Er hatte einen muffigen Geruch an sich, wie ungewaschenes Bettzeug.
«Sie können mit diesen Befehlen anfangen«, sagte er mürrisch,»je fünf Abschriften, sauber und lesbar, ordentlich geschrieben, oder Sie kriegen Ärger mit dem Kapitän.»
Bolitho wartete, bis Scroggs davongeschlurft war, und horchte dann zu der kleinen Gruppe hinüber, die beim Kapitän stand. Während er sich vorhin in aller Eile das frische Hemd übergestreift hatte, war ihm klargeworden, daß sich die Ehrfurcht, die er bei der ersten Begegnung mit dem Kapitän empfunden hatte, in Groll verwandelte. Conway hatte die Begründung für seinen unvorschriftsmäßigen Anzug als unwichtig, sogar als banal abgetan. Statt dessen hatte er seine eigene Person als Vorbild hingestellt — der untadelige Kapitän, immer im Dienst, niemals müde, der für jedes Problem auf Anhieb eine Lösung bei der Hand hatte.
Aber jetzt, da er die ruhige, gemächliche Stimme hörte, mit der der Kapitän so ganz nebenbei erwähnte, daß einige viertausend Meilen zu segeln waren, wie er Angaben über den zweckmäßigsten Kurs machte und Anordnungen über Verpflegung, Frischwasser und, was das Wichtigste zu sein schien, über die Ausbildung der Mannschaft traf — da konnte er nur staunen.
In dieser Kajüte, die ihm ein paar Minuten lang wie der Gipfel allen Luxus vorgekommen war, schlug der Kapitän seine eigenen, privaten Schlachten. Er konnte seine Sorgen, seine Verantwortung mit niemandem teilen. Ein Schauer überlief Bolitho. Für einen Mann, der auch nur eine Sekunde an sich selbst zweifelte, konnte diese große Kajüte sehr leicht zum Gefängnis werden.
Er erinnerte sich an seine Kindheit. Manchmal, wenn das Schiff seines Vaters — was freilich sehr selten und nur unter günstigen Umständen vorkam — in Falmouth vor Anker lag, hatte er seinen Vater dort besuchen dürfen. Wie anders war das gewesen! Seines Vaters Offiziere lächelten ihm freundlich zu; manche benahmen sich direkt unterwürfig ihm gegenüber. Wie änderte sich das, als er seinen Dienst als Midshipman antrat! Wie hochfahrend, wie unduldsam waren die Leutnants!
Scroggs stand wieder neben ihm.»Bringen Sie diese Order dem Bootsmann, und kommen Sie gleich zurück!«Er drückte ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier in die Hand.
Bolitho nahm seinen Hut auf und ging eilig an dem großen Schreibtisch vorbei. Er war schon beinahe zur Tür hinaus, da ließ ihn die Stimme des Kapitäns erstarren.
«Wie, sagten Sie, war Ihr Name?»
«Bolitho, Sir.»
«Sehr schön. Ab mit Ihnen, und denken Sie an das, was ich gesagt habe!«Conway blickte auf seine Papiere nieder und wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte.
Als er wieder auf- und den Schiffsarzt ansah, bemerkte er kurz:
«Wenn man einen neuen Midshipman zuhören läßt, weiß das ganze Schiff sofort, was man vorhat.»
Der Schiffsarzt sah ihn ernsthaft an.»Ich glaube, ich kenne die Familie dieses jungen Mannes, Sir. Sein Großvater war mit Wolfe vor Quebec.»
«Was Sie nicht sagen. «Conway studierte bereits das nächste Schriftstück.
«Er war Konteradmiral, Sir«, fügte der Schiffsarzt leise hinzu.
Aber Conway war in Gedanken schon ganz woanders, wie sein gelindes Stirnrunzeln andeutete.
Der Schiffsarzt seufzte. Kapitäne waren eben völlig unnahbar.
III Die Athen
Kurs Südwest und dann Süd, tagaus, tagein, unter fast pausenloser, knochenbrechender Arbeit. Endlich war die schwere, unbeholfene Gorgon aus dem engen, schwierigen Ärmelkanal heraus und nahm Kurs auf die berüchtigte Biskaya. Während dieser Zeit schlossen sich Bolitho und seine neuen Kameraden enger aneinander. Sie brauchten ihre vereinte Kraft, nicht nur im Kampf gegen die See, sondern auch, um sich innerhalb des Schiffs zu behaupten. Bolitho hatte einmal gehört, wie Turnbull, der Segelmeister, schwor, das sei für diese Jahreszeit das schlechteste Wetter, an das er sich erinnern könnte; und wenn das jemand sagte, der einige dreißig Winter bei der Königlichen Flotte verbracht hatte, so war das eine ernst zu nehmende Feststellung. Besonders jetzt, da Bolithos vorübergehende Arbeit in der Kapitänskajüte zu Ende war. Marracks Arm, den er sich bei jenem ersten Sturm verletzt hatte, war geheilt, und er tat wieder Dienst als Hilfs-Kapitänsschreiber. Und so hingen Bolitho und Dancer wieder zusammen im Vormast, sobald» Alle Mann «gepfiffen wurde, um Segel zu setzen oder zu reffen.