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42.

Wo Glaube noth thut. — Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als Rechtschaffenheit; vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewusste Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Unschuld: erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass sie nur gewisse Wahrheiten zulassen: nämlich solche, auf die hin ihr Handwerk die öffentliche Sanktion hat, — Kantisch geredet, Wahrheiten der praktischen Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen müssen, darin sind sie praktisch, — sie erkennen sich unter einander daran, dass sie über »die Wahrheiten« übereinstimmen. — »Du sollst nicht lügen« — auf deutsch: hüten Sie sich, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen ...

43.

Den Conservativen in's Ohr gesagt. — Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte —, eine Rückbildung, eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt, — sie wollten die Menschheit auf ein früheres Maass von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies meine Definition des modernen »Fortschritts« ... ). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. —

44.

Mein Begriff vom Genie. — Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, — dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das »Genie«, die »That«, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an »Zeitgeist«, an »öffentlicher Meinung«! — Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vorrevolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. — Dass man hierüber in Frankreich heute sehr anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet, das »riecht nicht gut«, das macht Einem traurige Gedanken. — Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und »grossen Manne« abzufinden: entweder demokratisch in der Art Buckle's oder religiös in der Art Carlyle's. — Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie — in Werk, in That — ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse ... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das »Aufopferung«; man rühmt seinen »Heroismus« darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverständnisse ... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, — mit Fatalität, verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer Moral ... Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie missversteht ihre Wohlthäter.-

45.

Der Verbrecher und was ihm verwandt ist. — Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, zu Recht besteht. Seine Tugenden sind von der Gesellschaft in Bann gethan; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, verwachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten, mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur physiologischen Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch; und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese Instinkte — er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe nothwendig: denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker erweist als die Gesellschaft: der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky's von Belang — Dostoiewsky's, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte: er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die Entdeckung Stendhal's. Dieser tiefe Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete — ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des Verbrechers: denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde, die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohlthätig, als nützlich empfunden werden, — jenes Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenzformen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt: der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse Entdecker ... So lange der Priester als oberster Typus galt, war jede werthvolle Art Mensch entwerthet ... Die Zeit kommt — ich verspreche das — wo er als der niedrigste gelten wird, als unser Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch ... Ich richte die Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht hat, jede Abseitigkeit, jedes lange, allzulange Unterhalb, jede ungewöhnliche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt, den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn: nicht, weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen die »catilinarische Existenz«, ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon ist, was nicht mehr wird ... Catilina — die Präexistenz-Form jedes Caesar. —