Meine Wunde ist während der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewänder in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor fünfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur -, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie über die Köpfe der frommen Schwestern und die Schädel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten weißen Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemütlich, kräftig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Äderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er weiß es nicht – aber er war mein Beichtvater für manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat beichten und kommunizieren mußten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu Bodendiek. Er war schwerhörig, und da man bei der Beichte flüstert, konnte er nicht verstehen, was für Sünden man bekannte. Er gab deshalb die leichtesten Bußen auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sünden ledig und konnte Fußball spielen gehen oder in der Städtischen Leihbücherei versuchen, verbotene Bücher zu bekommen. Das war etwas anderes als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der Dompastor gab mir eine heimtückische Buße auf: ich mußte in einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich, warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lügen darf, sagte ich es ihm, und er gab mir als Buße ein paar Dutzend Rosenkränze zu beten und den Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und ich verzweifelte fast – ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette des Dompastors zu wöchentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Glück bekam der heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mußte im Bett bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklärte ihm mit lauter Stimme die Lage – der Dompastor habe mich verpflichtet, heute wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen könne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, daß ich bei ihm ebensogut beichten könne; Beichte sei Beichte und Priester Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie die Pest.
Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nähe des großen Saales für die freien Kranken. Es ist kein eigentliches Eßzimmer; Bücherregale stehen darin, ein Topf mit weißen Geranien, ein paar Stühle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hätte vor zehn Jahren nie geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken – aber ich hätte damals auch nie geglaubt, daß ich einmal Menschen töten und dafür nicht aufgehängt, sondern dekoriert werden würde, und trotzdem ist es so gekommen.
Bodendiek probiert den Wein.»Ein Schloß Reinhardshausener von der Domäne des Prinzen Heinrich von Preußen«, erklärt er andächtig.»Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von Wein?«
»Wenig«, sage ich.
»Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll sie genießen und verstehen.«
»Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes«, erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Bäume schwanken.»Soll man den auch genießen und verstehen?«
Bodendiek sieht mich über den Rand seines Weinglases belustigt an.»Für einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genießen; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu fürchten. Und für viele ist er eine Erlösung.«
»Warum?«
»Eine Erlösung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend.«Bodendiek nimmt einen genießerischen Schluck und läßt ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.
»Ich weiß«, sage ich.»Die Erlösung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?«
Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als könne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Schöße seines Priesterrocks über die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kräftigen Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest in der Hand.
»Wozu hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?«wiederhole ich.»Hätte er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen können?«
Bodendiek hebt die Schultern.»Sie können das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das Paradies, der Sündenfall -«
»Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsünde und damit der Fluch über hunderttausend Generationen. Der Gott der längsten Rache, die es je gegeben hat.«
»Der Gott der Vergebung«, erwidert Bodendiek und hält den Wein gegen das Licht.»Der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben, und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlösen.«
»Herr Vikar Bodendiek«, sagte ich, plötzlich sehr wütend.»Weshalb hat der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen? Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?«
»Wer hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhöht. Gott ist die ausgleichende Gerechtigkeit.«
»Ich bin nicht so sicher«, erwidere ich.»Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs hatte, die sechs fürchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne Schmerzen war und die schließlich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsünde. Nach denselben Regeln brennt sie jetzt für alle Ewigkeit in der Hölle, die der Gott der Liebe geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?«
Bodendiek sieht eine Zeitlang in den Wein.»Ist es Ihre Mutter?«fragt er dann.
Ich starre ihn an.»Was hat das damit zu tun?«
»Es ist Ihre Mutter, nicht wahr?«
Ich schlucke.»Und wenn es meine Mutter wäre -«
Er schweigt.»Es genügt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versöhnen«, sagt er dann behutsam.»Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden.«
»Das habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch gesagt. Aber wenn der Gedanke nicht da war?«
Bodendiek sieht mich an.»Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhüten und zu erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er richtet?«
»Richtet er?«
»Wir nennen es so. Es ist Liebe.«
»Liebe«, sage ich bitter.»Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die quält und elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen eines imaginären Himmels zu korrigieren glaubt.«
Bodendiek lächelt.»Glauben Sie nicht, daß vor Ihnen schon andere Leute darüber nachgedacht haben?«
»Ja, unzählige. Und klügere als ich.«
»Das glaube ich auch«, erwidert Bodendiek gemütlich.
»Das ändert nichts daran, daß ich es nicht auch tue.«
»Bestimmt nicht.«Bodendiek schenkt sein Glas voll.»Tun Sie es nur gründlich. Zweifel ist die Kehrseite des Glaubens.«
Ich sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn erschüttern. Hinter seinem kräftigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht Isabelles, die weht und gegen das Fenster stößt und endlos und voller Fragen ohne Antwort ist. Bodendiek aber hat auf alles eine Antwort.