Die Tür öffnet sich. Auf einer großen Platte erscheint das Essen, in runden Schüsseln, die aufeinandergestellt sind. Eine paßt in die andere, es ist die Art, wie in Hospitälern serviert wird. Die Küchenschwester breitet ein Tuch über den Tisch, legt Messer, Löffel und Gabeln darauf und verschwindet.
Bodendiek lüftet die obere Schüssel.»Was haben wir denn heute nacht? Bouillon«, sagt er zärtlich.»Bouillon mit Markklößchen. Erstklassig! Und Rotkohl mit Sauerbraten. Eine Offenbarung!«
Er schöpft die Teller voll und beginnt zu essen. Ich ärgere mich darüber, mit ihm disputiert zu haben, und fühle, daß er klar überlegen ist, obschon es nichts mit dem Problem zu tun hat. Er ist überlegen, weil er nichts sucht. Er weiß. Aber was weiß er schon? Beweisen kann er nichts. Trotzdem kann er mit mir spielen, wie er will.
Der Arzt kommt herein. Es ist nicht der Direktor; es ist der behandelnde Arzt.»Essen Sie mit uns?«fragt Bodendiek.»Dann müssen Sie sich dazuhalten. Wir lassen sonst nichts übrig.«
Der Arzt schüttelt den Kopf.»Ich habe keine Zeit. Es gibt ein Gewitter. Da sind die Kranken immer besonders unruhig.«
»Es sieht nicht nach einem Gewitter aus.«
»Noch nicht. Aber es wird kommen. Die Kranken fühlen das voraus. Wir, mußten schon ein paar ins Dauerbad legen. Es wird eine schwierige Nacht werden.«
Bodendiek verteilt den Sauerbraten zwischen uns. Er nimmt sich die größere Portion.»Gut, Doktor«, sagt er.
»Aber trinken Sie wenigstens ein Glas Wein mit uns. Es ist ein Fünfzehner. Eine Gabe Gottes! Sogar für unseren jungen Heiden hier.«
Er zwinkert mir zu, und ich möchte ihm gern meine Sauerbratensauce in seinen leicht speckigen Kragen schütten. Der Doktor setzt sich zu uns und nimmt das Glas an. Die bleiche Schwester steckt den Kopf durch die Tür.
»Ich esse jetzt nicht, Schwester«, sagt der Doktor.»Stellen Sie mir ein paar belegte Brote und eine Flasche Bier in mein Zimmer.«
Er ist ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, dunkel, mit einem schmalen Gesicht, dicht zusammenstehenden Augen und großen, abstehenden Ohren. Er heißt Wernicke, Guido Wernicke, und haßt seinen Vornamen so, wie ich»Rolf«hasse.
»Wie steht’s mit Fräulein Terhoven?«frage ich.
»Terhoven? Ach so – nicht so besonders, leider. Haben Sie nichts bemerkt heute? Eine Änderung?«
»Nein. Sie war so wie immer. Vielleicht etwas erregter; aber Sie sagten ja, das käme vom Gewitter.«
»Wir werden sehen. Man kann nie viel voraussagen hier oben.«
Bodendiek lacht.»Das sicher nicht. Hier nicht.«
Ich sehe ihn an. Was für ein roher Christ, denke ich. Aber dann fällt mir ein, daß er ja berufsmäßiger Seelenpfleger ist; dabei geht immer etwas an Empfindung auf Kosten des Könnens verloren – ebenso wie bei Ärzten, Krankenschwestern und Grabsteinverkäufern.
Ich höre, wie er sich mit Wernicke unterhält. Ich habe plötzlich keine Lust mehr zu essen und stehe auf und gehe ans Fenster. Hinter den bewegten schwarzen Wipfeln ist eine Wolkenwand mit fahlen Rändern emporgewachsen. Ich starre hinaus. Alles scheint auf einmal sehr fremd, und hinter dem vertrauten Gartenbild drängt ein anderes, wilderes schweigend hervor, das das alte wegstößt wie eine leere Hülse. Ich erinnere mich an Isabelles Schrei:»Wo ist mein erstes Gesicht? Mein Gesicht vor allen Spiegeln?«Ja, wo ist das allererste Gesicht? denke ich. Die Urlandschaft, bevor sie zur Landschaft unserer Sinne wurde, zu Park und Wald und Haus und Mensch – wo ist das Gesicht Bodendieks, bevor es Bodendiek wurde, wo das Wernickes, bevor es seinem Namen entsprach? Wissen wir noch etwas davon? Oder sind wir gefangen in einem Netz von Begriffen und Worten, von Logik und täuschender Vernunft, und dahinter stehen die einsam lodernden Urfeuer, zu denen wir keinen Zugang mehr haben, weil wir sie in Nützlichkeit und Wärme verwandelt haben, in Küchenfeuer und Heizung und Schwindel und Gewißheit und Bürgerlichkeit und Mauern und allenfalls in ein türkisches Bad schwitzender Philosophie und Wissenschaft? Wo sind sie? Stehen sie immer noch unfaßbar und rein und unzugänglich hinter Leben und Tod, bevor sie Leben und Tod für uns wurden, und sind vielleicht nur die, die jetzt in diesem Hause in ihren vergitterten Zimmern hocken und schleichen und starren und das Gewitter in ihrem Blut fühlen, ihnen nahe? Wo ist die Grenze, die Chaos von Ordnung scheidet, und wer kann sie überschreiten und zurückkommen, und wenn es ihm gelingt, wer weiß dann noch etwas davon? Löscht das eine nicht die Erinnerung an das andere aus? Wer ist der Gestörte, Gezeichnete, Verbannte, sind wir es mit unseren Grenzen, mit unserer Vernunft, unserem geordneten Weltbild, oder sind es die andern, durch die das Chaos rast und blitzt, und die dem Grenzenlosen preisgegeben sind wie Zimmer ohne Türen, ohne Decke, Räume mit drei Wanden, in die es hineinblitzt und stürmt und regnet, während wir andern stolz in unsern geschlossenen Zimmern mit Türen und vier Wänden umhergehen und glauben, wir seien überlegen, weil wir dem Chaos entkommen sind? Aber was ist Chaos? Und was Ordnung? Und wer hat sie? Und warum? Und wer entkommt je?
Ein fahles Leuchten fliegt über dem Parkrand hoch, und nach langer Zeit antwortet ein sehr schwaches Murren. Wie eine Kabine voll Licht scheint unser Zimmer zu schwimmen in der Nacht, die unheimlich wird, als rüttelten irgendwo gefangene Riesen an ihren Ketten, um aufzuspringen und das Geschlecht der Zwerge zu vernichten, das sie für kurze Zeit gefesselt hat. Eine Kabine mit Licht in der Dunkelheit, Bücher und drei geordnete Gehirne in einem Hause, in dem wie in den Waben eines Bienenkorbes das Unheimliche eingesperrt ist, wetterleuchtend in den zerstörten Gehirnen ringsum! Wie, wenn in einer Sekunde ein Blitz der Erkenntnis durch alle schlüge und sie sich zusammenfänden in einer Revolte, wenn sie die Schlösser brächen, die Stangen zersprengten, und wie eine graue Woge die Treppe hinaufschäumten und das erleuchtete Zimmer, diese Kabine begrenzten, festen Geistes wegschwemmten in die Nacht und in das, was ohne Namen mächtiger hinter der Nacht steht?
Ich drehe mich um. Der Mann des Glaubens und der Mann der Wissenschaft sitzen unter dem Licht, das sie bescheint. Die Welt ist keine vage, zitternde Unruhe für sie, kein Murren aus Tiefen, kein Wetterleuchten in eisigen Ätherräumen – sie sind Männer des Glaubens und der Wissenschaft, sie haben Senkblei und Lot und Waage und Maß, jeder ein anderes, aber das ficht sie nicht an, sie sind sicher, sie haben Namen, die sie wie Etiketten auf alles kleben können, sie schlafen gut, sie haben einen Zweck, das genügt ihnen, und selbst das Grauen, der schwarze Vorhang vor dem Selbstmord, hat seinen wohlgeordneten Platz in ihrem Dasein, es hat einen Namen und ist klassifiziert und damit ungefährlich geworden. Nur das Namenlose tötet, oder das, was seinen Namen gesprengt hat.
»Es blitzt«, sage ich.
Der Doktor sieht auf.»Tatsächlich!«
Er erörtert gerade das Wesen der Schizophrenie, der Krankheit Isabelles. Sein dunkles Gesicht ist von Eifer leicht gerötet. Er erklärt, wie Kranke dieser Art blitzartig, in Sekunden, von einer Persönlichkeit in die andere springen, und daß man sie in alten Zeiten als Seher und Heilige bezeichnet habe und in anderen als vom Teufel Besessene, vor denen das Volk abergläubischen Respekt hatte. Er philosophiert über die Gründe, und ich wundere mich plötzlich, woher er das alles weiß und warum er es als Krankheit bezeichnet. Könnte man es nicht ebensogut als einen besonderen Reichtum ansehen? Hat nicht jeder normale Mensch auch ein Dutzend Persönlichkeiten in sich? Und ist der Unterschied nicht nur der, daß der Gesunde sie unterdrückt und der Kranke sie freiläßt? Wer ist da krank?
Ich trete an den Tisch und trinke mein Glas aus. Bodendiek betrachtet mich wohlwollend; Wernicke so, wie man einen völlig uninteressanten Fall ansieht. Ich fühle zum erstenmal den Wein; ich fühle, daß er gut ist, in sich geschlossen, gereift und nicht lose. Er hat kein Chaos mehr in sich, denke ich. Er hat es verwandelt. Verwandelt in Harmonie. Aber verwandelt, nicht ersetzt. Er ist ihm nicht ausgewichen. Ich bin plötzlich, eine Sekunde lang, ohne Grund unsagbar glücklich. Man kann das also, denke ich. Man kann es verwandeln! Es ist nicht nur eins oder das andere. Es kann auch eins durch das andere sein.