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»Wie denken Sie über das Leben?«frage ich ihn.

Er hält an.»Morgens anders als abends, im Winter anders als im Sommer, vor dem Essen anders als nachher, und in der Jugend wahrscheinlich anders als im Alter.«

»Richtig. Endlich eine vernünftige Antwort!«

»Na schön, wenn Sie es wissen, weshalb fragen Sie denn noch?«

»Fragen bildet. Außerdem frage ich morgens anders als abends, im Winter anders als im Sommer, und vor dem Beischlaf anders als nachher.«

»Nach dem Beischlaf«, sagt Wilke.»Richtig, da ist immer alles anders! Das hatte ich ganz vergessen.«

Ich verbeuge mich vor ihm wie vor einem Abt.»Gratuliere zur Askese! Sie haben den Stachel des Fleisches also schon überwunden! Wer auch soweit wäre!«

»Unsinn! Ich bin nicht impotent. Aber die Weiber sind komisch, wenn man Sargtischler ist. Grauen sich. Wollen nicht in die Werkstatt rein, wenn ein Sarg drinsteht. Nicht einmal, wenn man Berliner Pfannkuchen und Portwein auftischt.«

»Wo auftischt?«frage ich.»Auf dem unfertigen Sarg? Auf dem polierten doch sicher nicht; Portwein macht Ringe.«

»Auf der Fensterbank. Auf dem Sarg kann man sitzen. Dabei ist es doch noch gar kein Sarg. Ein Sarg wird es erst, wenn ein Toter drin liegt. Bis dahin ist es nur ein Stück Tischlerarbeit.«

»Stimmt. Aber es ist schwer, das immer auseinanderzuhalten!«

»Es kommt darauf an. Einmal, in Hamburg, hatte ich eine Dame, der war es egal. Es machte ihr sogar Spaß. Sie war scharf drauf. Ich füllte den Sarg halbvoll mit weichen weißen Hobelspänen aus Tanne, die riechen immer so romantisch nach Wald. Alles ging gut. Wir hatten mächtigen Spaß, bis sie wieder herauswollte. Da war irgendwo noch etwas von dem verdammten Leim an einer Stelle auf dem Boden nicht ganz trocken gewesen, die Hobelspäne hatten sich verschoben, und die Haare der Dame waren in den Leim geraten und festgeklebt. Sie ruckte ein paarmal, und dann ging das Schreien los. Sie glaubte, es wären Tote, die sie bei den Haaren festhielten. Sie schrie und schrie, und Leute kamen, mein Meister auch, sie wurde freigemacht, und ich flog aus meiner Stellung heraus. Schade – es hätte eine schöne Beziehung werden können; das Leben ist nicht leicht für unsereins.«

Wilke wirft mir einen wilden Blick zu, grinst kurz und scharrt genußvoll in seinem Kistchen, ohne es mir anzubieten.»Ich kenne zwei Fälle von Sprottenvergiftung«, sage ich.»Das ist ein grauenhafter, langwieriger Tod.«

Wilke winkt ab.»Diese hier sind frisch geräuchert. Und sehr zart. Eine Delikatesse. Ich teile sie mit Ihnen, wenn Sie mir ein nettes, unvoreingenommenes Mädchen verschaffen – so wie die mit dem Sweater, die Sie jetzt öfter abholen kommt.«

Ich starre den Sargtischler an. Er meint zweifellos Gerda. Gerda, auf die ich gerade warte.»Ich bin kein Mädchenhändler«, sage ich scharf.»Aber ich will Ihnen einen Rat geben. Führen Sie Ihre Damen anderswohin und nicht gerade in Ihre Werkstatt.«

»Wohin denn?«Wilke stochert nach Gräten in seinen Zähnen.»Da liegt ja der Haken! In ein Hotel? Zu teuer. Dazu die Angst vor Polizei-Razzien. In die städtischen Anlagen? Wieder die Polizei! Hier in den Hof? Da ist meine Werkstatt doch noch besser.«

»Haben Sie keine Wohnung?«

»Mein Zimmer ist nicht sturmfrei. Meine Vermieterin ist ein Drache. Vor Jahren habe ich mal was mit ihr gehabt. In äußerster Not, verstehen Sie? Nur kurz – aber der Satan ist heute, zehn Jahre später, noch eifersüchtig. Mir bleibt nur die Werkstatt. Also, wie ist es mit einem Freundschaftsdienst? Stellen Sie mich der Dame im Sweater vor!«

Ich zeige stumm auf das leergefressene Sprottenkistchen. Wilke wirft es in den Hof und geht zum Wasserhahn, um sich die Pfoten zu waschen.»Ich habe oben noch eine Flasche erstklassigen Portwein-Verschnitt.«

»Behalten Sie das Gesöff für Ihre nächste Bajadere.«

»Bis dahin wird Tinte daraus. Aber es gibt noch mehr Sprotten in der Welt als dieses eine Kistchen.«

Ich zeige auf meine Stirn und gehe ins Büro, um mir einen Zeichenblock und einen Klappsessel zu holen und für Frau Niebuhr ein Mausoleum zu entwerfen. Ich setze mich neben den Obelisken – so kann ich gleichzeitig das Telefon hören und die Straße und den Hof überblicken. Die Zeichnung des Denkmals werde ich mit der Inschrift schmücken: Hier ruht nach langem, schwerem Leiden der Major a. D. Wolkenstein, gestorben im Mai 1923.

Eines der Knopfmädchen kommt und bestaunt meine Arbeit. Es ist einer der Zwillinge, die kaum zu unterscheiden sind. Die Mutter kann es, am Geruch, Knopf ist es egal, und von uns anderen kann es keiner genau. Ich versinke in Gedanken darüber, wie es sein müßte, wenn man einen Zwilling heiratete und der zweite wohnte im selben Hause.

Gerda unterbricht mich. Sie steht im Hofeingang und lacht. Ich lege meine Zeichnung beiseite. Der Zwilling verschwindet. Wilke hört auf, sich zu waschen. Er zeigt hinter Gerdas Rücken auf das leere Sprottenkistchen, das die Katze durch den Hof schiebt, dann auf sich und hebt zwei Finger. Dazu flüstert er lautlos:»Zwei.«

Gerda trägt heute einen grauen Sweater, einen grauen Rock und eine schwarze Baskenmütze. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Papagei; sie ist hübsch und sportlich und guter Laune. Ich blicke sie mit neuen Augen an. Eine Frau, die ein anderer begehrt, auch wenn es nur ein liebestoller Sargtischler ist, wird sofort kostbarer als vorher. Der Mensch lebt nun einmal viel mehr vom relativen als vom absoluten Wert.

»Warst du heute in der Roten Mühle?«frage ich.

Gerda nickt.»Eine Stinkbude! Ich habe da geprobt. Wie ich diese Lokale mit dem kalten Tabakqualm hasse!«

Ich sehe sie beifällig an. Wilke hinter ihr knöpft sein Hemd zu, streicht sich die Hobelspäne aus dem Schnurrbart und fügt seinem Angebot drei Finger hinzu. Fünf Kistchen Sprotten! Ein schönes Angebot, aber ich beachte es nicht. Vor mir steht das Glück einer Woche, klar, fest, ein Glück, das nicht schmerzt – das einfache Glück der Sinne und der gemäßigten Phantasie, das kurze Glück eines Nachtklub-Engagements von vierzehn Tagen, ein Glück, das schon halb vorüber ist, das mich von Erna erlöst hat und das selbst Isabelle zu dem gemacht hat, was sie sein sollte: eine Fata Morgana, die nicht schmerzt und die keine Wünsche weckt, die unerfüllbar sind.

»Komm, Gerda«, sage ich voll plötzlich aufschießender sachlicher Dankbarkeit.»Laß uns heute erstklassig essen gehen! Bist du hungrig?«

»Ja, sehr. Wir können irgendwo -«

»Nichts von Kartoffelsalat heute und nichts von Würstchen! Wir werden hervorragend essen und ein Jubiläum feiern: die Mitte unseres gemeinsamen Lebens. Vor einer Woche warst du zum erstenmal hier; in einer Woche wirst du mir vom Bahnhof aus Lebewohl zuwinken. Laß uns das erste feiern und an das zweite nicht denken!«

Gerda lacht.»Ich habe auch gar keinen Kartoffelsalat machen können. Zuviel Arbeit. Zirkus ist was anderes als blödes Kabarett.«

»Gut, dann gehen wir heute ins „Walhalla“. Ißt du gern Gulasch?«

»Ich esse gern«, erwidert Gerda.

»Das ist es! Laß uns dabei bleiben! Und nun auf zum Fest der großen Mitte unseres kurzen Lebens!«

Ich werfe den Zeichenblock durch das offene Fenster auf den Schreibtisch. Im Weggehen sehe ich noch Wilkes maßlos enttäuschte Visage. Mit trostlosem Ausdruck hält er beide Hände hoch – zehn Kistchen Sprotten – ein Vermögen!

»Warum nicht?«sagt Eduard Knobloch kulant zu meinem Erstaunen. Ich hatte erbitterten Widerstand erwartet. Die Eßmarken gelten nur für mittags, aber nach einem Blick auf Gerda ist Eduard nicht nur bereit, sie auch für heute abend zu akzeptieren, er bleibt sogar am Tisch stehen:»Würdest du mich bitte vorstellen?«

Ich bin in einer Zwangslage. Er hat die Eßmarken akzeptiert – also muß ich ihn akzeptieren.»Eduard Knobloch, Hotelier, Restaurateur, Poet, Billionär und Geizhals«, erkläre ich nachlässig.»Fräulein Gerda Schneider.«

Eduard verneigt sich, halb geschmeichelt, halb verärgert.

»Glauben Sie ihm nichts von allem, gnädiges Fräulein.«