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»Rudolf?«wiederholt sie.»Rudolf – wie, bitte?«

Ich starre sie an.»Wir haben oft miteinander gesprochen«, sage ich dann.

Sie nickt.»Ja, ich war lange hier. Ich habe vieles davon vergessen, entschuldigen Sie. Sind Sie auch schon lange hier?«

»Ich? Ich war doch nie hier oben! Ich habe hier doch nur Orgel gespielt. Und dann -«

»Orgel, ja, so«, erwidert Geneviève Terhoven höflich.»In der Kapelle. Ja, ich erinnere mich. Entschuldigen Sie, daß es mir im Augenblick entfallen war. Sie haben sehr schön gespielt. Vielen Dank.«

Ich stehe da wie ein Idiot. Ich verstehe nicht, warum ich nicht gehe. Geneviève versteht es offenbar auch nicht.

»Verzeihen Sie«, sagt sie.»Ich habe noch viel zu tun; ich reise bald.«

»Sie reisen bald?«

»Ja«, erwidert sie erstaunt.

»Und Sie erinnern sich an nichts? Nicht an die Namen, die in der Nacht abfallen und an die Blumen, die Stimmen haben?«

Isabelle hebt verständnislos die Schultern.»Gedichte«, erklärt sie dann lächelnd.»Ich habe sie immer geliebt. Aber es gibt so viele! Man kann sich nicht an alle erinnern.«

Ich gebe auf. Es ist so, wie ich es geahnt habe! Sie ist gesund geworden, und ich bin aus ihren Händen geglitten wie aus den Händen einer schlafenden Bäuerin eine Zeitung. Sie erinnert sich an nichts mehr. Es ist, als wäre sie aus einer Narkose erwacht. Die Zeit hier oben ist aus ihrem Gedächtnis entschwunden. Sie hat alles vergessen. Sie ist Geneviève Terhoven und weiß nicht mehr, wer Isabelle war. Sie lügt nicht, das sehe ich. Ich habe sie verloren, nicht so, wie ich fürchtete, weil sie einem anderen Kreise als ich entstammt und in ihn zurückgeht, sondern schlimmer, gründlicher und unabänderlicher. Sie ist gestorben. Sie lebt und atmet noch und ist schön, aber in dem Augenblick, wo die Fremde der Krankheit weggenommen wurde, ist sie gestorben, ertrunken für immer. Isabelle, deren Herz flog und blühte, ist ertrunken in Geneviève Terhoven, einem wohlerzogenen Mädchen besserer Kreise, das sicher einmal wohlhabend heiraten und sogar eine gute Mutter sein wird.

»Ich muß fort«, sagt sie.»Vielen Dank noch einmal für das Orgelspiel.«

»Nun?«fragt mich Wernicke.»Was sagen Sie dazu?«

»Wozu?«

»Stellen Sie sich nicht so dumm. Zu Fräulein Terhoven. Sie müssen doch zugeben, daß sie in den drei Wochen, die Sie sie nicht gesehen haben, ein ganz anderer Mensch geworden ist. Voller Erfolg!«

»So was nennen Sie Erfolg?«

»Was denn sonst? Sie kehrt ins Leben zurück, alles ist in Ordnung, die Zeit vorher ist versunken wie ein böser Traum, sie ist wieder ein Mensch geworden, was wollen Sie mehr? Sie haben sie ja gesehen. Nun?«

»Ja«, sage ich.»Nun?«

Eine Schwester mit einem roten Bauerngesicht bringt eine Flasche Wein und Gläser.»Haben wir auch noch die Freude, Seine Hochwürden, Herrn Vikar Bodendiek zu sehen?«frage ich.»Ich weiß nicht, ob Fräulein Terhoven katholisch getauft ist, nehme es aber an, da sie aus dem Elsaß kommt, da wird Seine Hochwürden doch auch voller Jubel sein, daß Sie ein Schäflein für seine Herde zurückgefischt haben aus dem großen Chaos!«

Wernicke feixt.»Seine Hochwürden haben bereits ihrer Befriedigung Ausdruck gegeben. Fräulein Terhoven besucht seit einer Woche täglich die heilige Messe.«

Isabelle! denke ich. Sie wußte einmal, daß Gott immer noch am Kreuze hing und daß nicht nur die Ungläubigen ihn marterten. Sie kannte und verachtete auch die satten Gläubigen, die aus seinem Leiden eine fette Sinekure machten.»Hat sie auch schon gebeichtet?«frage ich.

»Das weiß ich nicht. Es ist möglich. Muß eigentlich jemand das, was er getan hat, während er geisteskrank war, beichten? Es wäre eine interessante Frage für mich unaufgeklärten Protestanten.«

»Es kommt darauf an, was man unter Geisteskrankheiten versteht«, sage ich bitter und schaue zu, wie der Seeleninstallateur ein Glas Schloß Reinhardtshauser heruntergießt.»Wir haben da zweifellos verschiedene Auffassungen. Im übrigen: Wie kann man beichten, was man vergessen hat? Denn vergessen hat Fräulein Terhoven ja wohl manches plötzlich.«

Wernicke schenkt sich und mir ein Glas ein.»Trinken wir den, bevor Hochwürden erscheint. Weihrauchduft mag heilig sein, aber er verdirbt die Blume eines solchen Weines.«Er nimmt einen Schluck, rollt die Augen und sagt:»Plötzlich vergessen? War es so plötzlich? Es kündigte sich doch schon länger an.«

Er hat recht. Ich habe es auch schon früher gemerkt. Es waren manchmal Augenblicke da, wo Isabelle mich nicht zu erkennen schien. Ich erinnere mich an das letzte Mal und trinke wütend den Wein aus. Er schmeckt mir heute nicht.

»Das ist wie ein unterirdisches Beben«, erklärt der erfolgstrotzende Wernicke.»Ein Seebeben. Inseln, sogar Kontinente, die vorher da waren, verschwinden, und andere tauchen wieder auf.«

»Und wie ist es mit einem zweiten Seebeben? Geht es dann umgekehrt?«

»Es kann auch das vorkommen. Aber das sind dann fast immer andere Fälle; solche, die mit zunehmender Verblödung Hand in Hand gehen. Sie haben ja die Beispiele davon hier gesehen. Wünschen Sie das für Fräulein Terhoven?«

»Ich wünsche ihr das Beste«, sage ich.

»Na, also!«

Wernicke schenkt den Rest des Weines ein. Ich denke an die trostlosen Kranken, die in den Ecken herumstehen und -liegen, denen der Speichel aus dem Munde läuft und die sich beschmutzen.»Natürlich wünsche ich ihr, daß sie nie wieder krank wird«, sage ich.

»Es ist nicht anzunehmen. Wir hatten bei ihr einen der Fälle vor uns, die geheilt werden können, wenn die Ursachen beseitigt worden sind. Alles ging sehr gut. Mutter und Tochter haben das Gefühl, das manchmal durch den Tod in solchen Situationen entsteht: in einer fernen Weise betrogen worden zu sein, und so sind beide wie verwaist und dadurch enger zusammen als je vorher.«

Ich starre Wernicke an. So poetisch habe ich ihn noch nie gehört. Er meint es auch nicht ganz ernst.»Sie haben heute mittag Gelegenheit, sich davon zu überzeugen«, erklärt er.»Mutter und Tochter kommen zu Tisch.«

Ich will weggehen; aber etwas zwingt mich, zu bleiben. Wenn der Mensch sich selbst quälen kann, versäumt er so leicht keine Gelegenheit dazu. Bodendiek erscheint und ist überraschend menschlich. Dann kommen Mutter und Tochter, und es beginnt ein plattes, zivilisiertes Gespräch. Die Mutter ist etwa fünfundvierzig Jahre alt, etwas voll, belanglos hübsch und angefüllt mit leichten, runden Phrasen, die sie mühelos verteilt. Sie weiß auf alles sofort eine Antwort, ohne nachzudenken.

Ich betrachte Geneviève. Manchmal, ganz kurz, glaube ich in ihren Zügen wie eine Ertrinkende das geliebte, wilde und verstörte andere Gesicht auftauchen zu sehen; aber es verschwimmt gleich wieder im Plätschern des Gespräches über die moderne Anlage des Sanatoriums, beide Damen gebrauchen kein anderes Wort, die hübsche Aussicht, die alte Stadt, verschiedene Onkel und Tanten in Straßburg und in Holland, über die schwere Zeit, die Notwendigkeit, zu glauben, die Qualität der Lothringer Weine und das schöne Elsaß. Nicht ein Wort von dem, was mich einst so bestürzt und erregt hat. Es ist versunken, als wäre es nie dagewesen.

Ich verabschiede mich bald.»Leben Sie wohl, Fräulein Terhoven«, sage ich.»Wie ich höre, reisen Sie diese Woche.«

Sie nickt.»Kommen Sie heute abend nicht noch einmal?«fragt Wernicke mich.

»Ja, zur Abendandacht.«

»Dann kommen Sie doch auf einen kleinen Trunk herüber zu mir. Nicht wahr, meine Damen?«

»Gerne«, erwidert Isabelles Mutter.»Wir gehen ohnehin zur Abendandacht.«

Der Abend ist noch schlimmer als der Mittag. Das weiche Licht trügt. Ich habe in der Kapelle Isabelle gesehen. Der Schein der Kerzen wehte über ihr Haar. Sie bewegte sich kaum. Die Gesichter der Kranken kamen beim Klang der Orgel herum wie helle, flache Monde. Isabelle betete; sie war gesund.

Nachher wird es nicht besser. Es gelingt mir, Geneviève am Ausgang der Kapelle zu treffen und mit ihr ein Stück allein vorauszugehen. Wir kommen durch die Allee. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Geneviève zieht ihren Mantel um sich.