»Wie kalt es abends schon ist.«
»Ja. Fahren Sie diese Woche ab?«
»Ich möchte schon. Ich war lange nicht zu Hause.«
»Freuen Sie sich?«-»Gewiß.«
Es ist nichts mehr zu sagen. Aber ich kann mir nicht helfen, der Schritt ist derselbe, das Gesicht im Dunkel, die weiche Ahnung.»Isabelle«, sage ich, bevor wir aus der Allee treten.
»Wie, bitte?«fragt sie erstaunt.
»Ach«, sage ich.»Es war nur ein Name.«
Sie verhält einen Augenblick den Schritt.»Sie müssen sich irren«, erwidert sie dann.»Mein Vorname ist Geneviève.«
»Ja, natürlich. Isabelle war nur der Name für jemand anderen. Wir haben manchmal darüber gesprochen.«
»So? Vielleicht. Man spricht über so vieles«, erklärt sie entschuldigend.»Da vergißt man dies und jenes.«
»O ja.«
»War es jemand, den Sie kannten?«
»Ja, so ungefähr.«
Sie lacht leise.»Wie romantisch. Verzeihen Sie, daß ich mich nicht gleich erinnerte. Jetzt fällt es mir ein.«
Ich starre sie an. Sie erinnert sich an nichts, ich sehe es. Sie lügt, um nicht unhöflich zu sein.»Es ist so viel in den letzten Wochen vorgefallen«, sagt sie leicht und etwas überlegen.»Da geht einem alles ein wenig durcheinander.«Und dann, um die Unhöflichkeit wieder gutzumachen, fragt sie:»Wie ist es denn weiter geworden in der letzten Zeit?«
»Was?«
»Das, was Sie von Isabelle erzählt haben.«
»Oh, das! Nichts weiter! Sie ist gestorben.«
Sie bleibt erschreckt stehen.»Gestorben? Wie leid mir das tut! Verzeihen Sie, ich wußte nicht…«
»Das macht nichts. Ich kannte sie auch nur flüchtig.«
»Plötzlich gestorben?«
»Ja«, erwidere ich.»Aber so, daß sie es gar nicht gemerkt hat. Das ist ja auch etwas wert.«
»Natürlich«, sie reicht mir die Hand.»Es tut mir aufrichtig leid.«
Ihre Hand ist fest und schmal und kühl. Sie fiebert nicht mehr. Es ist die Hand einer jungen Dame, die einen kleinen Fauxpas gemacht und wieder geordnet hat.»Ein schöner Name, Isabelle«, sagt sie.»Ich habe meinen eigenen Namen früher immer gehaßt.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein«, erwidert Geneviève freundlich.
Sie bleibt es auch weiter. Es ist die fatale Höflichkeit, die man für Leute in einer kleineren Stadt hat, die man vorübergehend trifft und bald wieder vergessen wird. Ich spüre auf einmal, daß ich einen schlecht sitzenden, umgearbeiteten Militäranzug trage, den der Schneider Sulzblick aus einer alten Uniform angefertigt hat. Geneviève dagegen ist sehr gut angezogen. Sie war es immer; aber es ist mir nie so sehr aufgefallen. Geneviève und ihre Mutter haben beschlossen, zuerst einmal nach Berlin zu fahren für einige Wochen. Die Mutter ist ganz verbindliche Herzlichkeit.»Die Theater! Und die Konzerte! Man lebt immer so auf, wenn man in eine wirkliche Großstadt kommt. Und die Geschäfte! Die neuen Moden!«
Sie tätschelt Genevièves Hand.»Wir werden uns da einmal gründlich verwöhnen, wie?«
Geneviève nickt. Wernicke strahlt. Sie haben sie zur Strecke gebracht. Aber was ist es, das sie zur Strecke gebracht haben? denke ich. Ist es vielleicht in jedem von uns, verschüttet, verborgen, und was ist es wirklich? Ist es dann nicht auch in mir? Und ist es da auch schon zur Strecke gebracht worden, oder war es nie frei? Ist es da, ist es etwas, das vor mir da war, das nach mir da sein wird, etwas, das wichtiger ist als ich? Oder ist alles nur ein bißchen tiefgründig scheinendes Durcheinander, eine Verschiebung der Sinne, eine Täuschung, Unsinn, der wie Tiefsinn aussieht, wie Wernicke behauptet? Aber warum habe ich es dann geliebt, warum hat es mich angesprungen wie ein Leopard einen Ochsen, warum kann ich es nicht vergessen? War es nicht trotz Wernicke, als ob in einem geschlossenen Raum eine Tür geöffnet worden wäre, und man hätte Regen und Blitze und Sterne gesehen?
Ich stehe auf.»Was ist los mit Ihnen?«fragt Wernicke.»Sie sind ja unruhig wie -«Er hält ein und fährt dann fort:»Wie der Dollarkurs.«
»Ach der Dollar«, sagt Genevièves Mutter und seufzt.
»Ein Unglück! Zum Glück hat Onkel Gaston -«
Ich höre nicht mehr, was Onkel Gaston getan hat. Ich bin plötzlich draußen und weiß nur noch, daß ich zu Isabelle gesagt habe:»Danke, für alles«, und sie verwundert gefragt hat:»Aber wofür nur?«
Ich gehe langsam den Hügel hinunter. Gute Nacht, du süßes, wildes Herz, denke ich. Leb wohl, Isabelle! Du bist nicht ertrunken, ich weiß das plötzlich. Du bist nicht untergegangen und nicht gestorben! Du hast dich nur zurückgezogen, du bist fortgeflogen, und nicht einmal das: du bist plötzlich unsichtbar geworden wie die alten Götter, eine Wellenlänge hat sich geändert, du bist noch da, aber du bist nicht mehr zu fassen, du bist immer da, und du wirst nie untergehen, alles ist immer da, nichts geht jemals unter, Licht und Schatten nur ziehen darüber hin, es ist immer da, das Antlitz vor der Geburt und nach dem Tode, und manchmal scheint es durch in dem, was wir für Leben halten, und blendet uns eine Sekunde, und wir sind nie ganz dieselben danach!
Ich merke, daß ich rascher gehe. Ich atme tief, und dann laufe ich. Ich bin naß von Schweiß, mein Rücken ist naß, ich komme zum Tor und gehe wieder zurück, ich habe immer noch das Gefühl, es ist wie eine mächtige Befreiung, alle Achsen laufen plötzlich durch mein Herz, Geburt und Tod sind nur Worte, die wilden Gänse über mir fliegen seit dem Beginn der Welt, es gibt keine Fragen und keine Antworten mehr! Leb wohl, Isabelle! Sei gegrüßt, Isabelle! Leb wohl, Leben! Sei gegrüßt, Leben!
Viel später merke ich, daß es regnet. Ich hebe mein Gesicht gegen die Tropfen und schmecke sie. Dann gehe ich zum Tor. Nach Wein und Weihrauch duftend wartet dort eine große Gestalt.
Wir gehen zusammen durchs Tor. Der Wärter schließt es hinter uns.»Nun?«fragt Bodendiek.»Wo kommen Sie her? Haben Sie Gott gesucht?«
»Nein. Ich habe ihn gefunden.«
Er blinzelt argwöhnisch unter seinem Schlapphut hervor.
»Wo? In der Natur?«
»Ich weiß nicht einmal, wo. Ist er an bestimmten Plätzen zu finden?«
»Am Altar«, brummt Bodendiek und deutet nach rechts.»Ich gehe diesen Weg. Und Sie?«
»Jeden«, erwidere ich.»Jeden, Herr Vikar.«
»So viel haben Sie doch gar nicht getrunken«, knurrt er etwas überrascht hinter mir her.
Ich komme nach Hause. Hinter der Tür springt jemand auf mich los.»Habe ich dich endlich, du Schweinehund?«
Ich schüttle ihn ab und glaube an irgendeinen Witz. Aber er ist im Augenblick wieder hoch und rennt mir den Kopf gegen den Magen. Ich falle gegen den Obelisken, kann dem Angreifer aber gerade noch einen Tritt in den Bauch geben. Der Tritt ist nicht kräftig genug, da ich schon im Fallen bin. Der Mann stürzt sich wieder auf mich, und ich erkenne den Pferdeschlächter Watzek.
»Sie sind verrückt geworden?«frage ich.»Sehen Sie nicht, wen Sie anfallen?«
»Ich sehe es schon!«Watzek packt mich an der Kehle.»Ich sehe dich Aas schon! Aber mit dir ist jetzt Schluß.«
Ich weiß nicht, ob er besoffen ist. Ich habe auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Watzek ist kleiner als ich, aber er hat Muskeln wie ein Bulle. Es gelingt mir, mich nach rückwärts zu überschlagen und ihn gegen den Obelisken zu drücken. Er läßt halb los, ich werfe mich mit ihm zur Seite und schlage seinen Kopf dabei gegen den Sockel des Obelisken. Watzek läßt ganz los. Ich gebe ihm zur Sicherheit noch einen Stoß mit der Schulter unter das Kinn, stehe auf, gehe zum Tor und mache Licht.»Und was soll das alles?«sage ich.
Watzek erhebt sich langsam. Er ist noch etwas betäubt und schüttelt den Kopf. Ich beobachte ihn. Plötzlich rennt er wieder mit dem Kopf voran auf meinen Magen los. Ich trete zur Seite, stelle ihm ein Bein, und er schlägt mit einem dumpfen Aufschlag aufs neue gegen den Obelisken, diesmal gegen den polierten Zwischensockel. Jeder andere wäre bewußtlos gewesen; Watzek taumelt kaum. Er dreht sich um und hat ein Messer in der Hand. Es ist ein langes scharfes Schlachtermesser, das sehe ich im elektrischen Licht. Er hat es aus dem Stiefel gezogen und rennt auf mich los. Ich versuche keine unnötigen Heldentaten; gegen einen Mann, der mit einem Messer umzugehen weiß wie ein Pferdeschlächter, wäre das Selbstmord. Ich springe hinter den Obelisken; Watzek mir nach. Zum Glück bin ich schneller und behender als er.