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Ich trage in meiner Hand eine Flasche Rothschen Korn und sitze auf der letzen Bank der Allee mit dem vollen Blick auf die Irrenanstalt. In meiner Tasche knistert ein Scheck auf harte Devisen: dreißig volle Schweizer Franken. Die Wunder haben nicht aufgehört: eine Schweizer Zeitung, die ich seit zwei Jahren mit meinen Gedichten bombardiert habe, hat in einem Anfall von Raserei eines angenommen und mir gleich den Scheck geschickt. Ich war bereits auf der Bank, mich zu erkundigen – die Sache stimmt. Der Bankvorsteher hat mir sofort einen Preis in schwarzer Mark dafür angeboten. Ich trage den Scheck in der Brusttasche, nahe dem Herzen. Er ist ein paar Tage zu spät gekommen. Ich hätte mir für ihn einen Anzug und ein weißes Hemd kaufen und damit eine repräsentable Figur vor den Damen Terhoven machen können. Dahin! Der Dezemberwind pfeift, der Scheck knistert, und ich sitze hier unten in einem imaginären Smoking, ein Paar imaginärer Lackschuhe, die Karl Brill mir noch schuldet, an den Füßen, und lobe Gott und bete dich an, Isabelle! Ein Taschentuch aus feinstem Batist flattert in meiner Brusttasche, ich bin ein Kapitalist auf der Wanderschaft, die Rote Mühle liegt mir zu Füßen, wenn ich will, in meiner Hand blinkt der Champagner des furchtlosen Trinkers, des Nie-genug-Trinkers, der Trank des Feldwebels Knopf, mit dem er den Tod in die Flucht schlug – und ich trinke gegen die graue Mauer mit dir dahinter, Isabelle, Jugend, mit deiner Mutter dahinter, mit dem Bankbuchhalter Gottes, Bodendiek, dahinter, mit dem Major der Vernunft, Wernicke, dahinter, mit der großen Verwirrung dahinter und dem ewigen Krieg, ich trinke und sehe gegenüber, links von mir, die Kreis-Hebammenanstalt, in der noch ein paar Fenster hell sind und in der Mütter gebären, und es fällt mir erst jetzt auf, daß sie so nahe bei der Irrenanstalt liegt – dabei kenne ich sie und sollte sie auch kennen, denn ich bin in ihr geboren worden und habe bis heute kaum je daran gedacht! Sei gegrüßt auch du, trautes Heim, Bienenstock der Fruchtbarkeit, man hat meine Mutter zu dir gebracht, weil wir arm waren und das Gebären dort umsonst war, wenn es vor einem Lehrgang werdender Hebammen geschah, und so diente ich schon bei meiner Geburt der Wissenschaft! Gegrüßt sei der unbekannte Baumeister, der dich so sinnvoll nahe dem anderen Gebäude gesetzt hat! Wahrscheinlich hat er es ohne Ironie getan, denn die besten Witze der Welt werden immer von ernsthaften Vordergrundmenschen gemacht. Immerhin – laßt uns unsere Vernunft feiern, aber nicht zu stolz auf sie sein und ihrer nicht zu sicher! Du, Isabelle, hast sie zurückbekommen, dieses Danaergeschenk, und oben sitzt Wernicke und freut sich und hat recht. Aber recht zu haben ist jedesmal ein Schritt dem Tode näher. Wer immer recht hat, ist ein schwarzer Obelisk geworden! Ein Denkmal!

Die Flasche ist leer. Ich werfe sie fort, so weit ich kann. Sie fällt mit einem dumpfen Laut in den weichen, aufgepflügten Acker. Ich stehe auf. Ich habe genug getrunken und bin reif für die Rote Mühle. Riesenfeld gibt dort heute einen vierfachen Abschieds- und Lebensretterabend. Georg wird da sein, Lisa, und dazu komme ich, der noch ein paar Privatabschiede zu erledigen gehabt hat, und wir alle werden außerdem noch einen mächtigen allgemeinen Abschied feiern – den von der Inflation.

Spät in der Nacht bewegen wir uns wie ein betrunkener Trauerzug die Große Straße entlang. Die spärlichen Laternen flackern. Wir haben das Jahr etwas vorzeitig zu Grabe getragen. Willy und Renée de la Tour sind zu uns gestoßen. Willy und Riesenfeld sind in einen heftigen Kampf geraten; Riesenfeld schwört auf das Ende der Inflation und auf die Roggenmark – und Willy hat erklärt, daß er dann bankrott sei, schon deshalb könne es nicht sein. Renée de la Tour ist darauf sehr schweigsam geworden.

Durch die wehende Nacht sehen wir in der Ferne einen zweiten Zug. Er kommt die Große Straße entlang auf uns zu.»Georg«, sage ich.»Wir wollen die Damen etwas zurücklassen! Das dort sieht nach Streit aus.«

»Gemacht.«

Wir sind in der Nähe des Neumarkts.»Wenn du siehst, daß wir unterliegen, renne sofort zum Café Matz«, instruiert Georg Lisa.»Frage nach Bodo Ledderhoses Gesangverein und sag, wir brauchten ihn.«Er wendet sich zu Riesenfeld:»Sie stellen sich besser so, als gehörten Sie nicht zu uns.«

»Du türmst, Renée«, erklärt Willy an ihrer Seite.»Halte dich weit vom Schuß!«

Der andere Zug ist herangekommen. Die Mitglieder tragen Stiefel, die große Sehnsucht des deutschen Patrioten, und sie sind, bis auf zwei, nicht älter als achtzehn bis zwanzig Jahre. Dafür sind sie doppelt so viele wie wir.

Wir gehen aneinander vorbei.»Den roten Hund kennen wir doch!«schreit plötzlich jemand. Willys Haarkrone leuchtet auch nachts.»Und den Kahlkopf!«schreit ein zweiter und zeigt auf Georg.»Drauf!«

»Los, Lisa!«sagt Georg.

Wir sehen ihre wirbelnden Absätze.»Die Feiglinge wollen die Polizei holen«, ruft ein semmelblonder Brillenträger und will hinter Lisa hersetzen. Willy stellt ein Bein vor, und der Semmelblonde stürzt. Gleich darauf sind wir im Gefecht.

Wir sind fünf ohne Riesenfeld. Eigentlich nur viereinhalb. Der Halbe ist Hermann Lotz, ein Kriegskamerad, dessen linker Arm an der Schulter amputiert ist. Er ist im Café Central mit dem kleinen Köhler, einem anderen Kameraden, zu uns gestoßen.»Paß auf, Hermann, daß sie dich nicht umschmeißen!«rufe ich.»Bleib in der Mitte. Und du, Köhler, beiß, wenn du am Boden liegst!«

»Rückendeckung!«kommandiert Georg.

Der Befehl ist gut; aber unsere Rückendeckung sind im Augenblick die großen Schaufenster des Modehauses Max Klein. Das patriotische Deutschland stürmt gegen uns an, und wer will schon in ein Schaufenster gepreßt werden? Man reißt sich den Rücken an den Splittern auf, und außerdem ist da noch die Frage des Schadenersatzes. Sie würde an uns hängenbleiben, wenn wir in den Splittern säßen. Wir könnten nicht fliehen.

Vorläufig bleiben wir dicht beisammen. Die Schaufenster sind halb erhellt; wir können unsere Gegner dadurch recht gut sehen. Ich erkenne einen der älteren; er gehört zu denen, mit denen wir im Café Central schon einmal Krach gehabt haben. Nach dem alten Gesetz, die Führer zuerst zu erledigen, rufe ich ihm zu:»Komm heran, du feiger Arsch mit Ohren!«

Er denkt nicht daran.»Reißt ihn raus!«kommandiert er seiner Garde.

Drei stürmen an. Willy schlägt einem auf den Kopf, daß er umfällt. Der zweite hat einen Gummiknüppel und schlägt mir damit auf den Arm. Ich kann ihn nicht erwischen, er aber mich. Willy sieht es, springt vor und kugelt ihm den Arm aus. Der Gummiknüppel fällt auf den Boden. Willy will ihn aufheben, wird dabei aber umgerannt.»Schnapp den Knüppel, Köhler!«rufe ich. Köhler stürzt sich in das Durcheinander am Boden, wo Willy im hellgrauen Anzug kämpft.

Unsere Schlachtordnung ist durchbrochen. Ich bekomme einen Stoß und fliege gegen das Schaufenster, daß es klirrt. Zum Glück bleibt es heil. Fenster öffnen sich über uns. Hinter uns, aus der Tiefe der Schaufenster, starren uns die elegant gekleideten Holzpuppen Max Kleins an. Sie tragen unbeweglich die neuesten Wintermoden und stehen da wie eine sonderbare, stumme Version der Weiber der alten Germanen, die von ihren Wagenburgen die Kämpfer anfeuerten.

Ein großer Bursche mit Pickeln hat mich an der Kehle. Er riecht nach Hering und Bier, und sein Kopf ist mir so nahe, als wollte er mich küssen. Mein linker Arm ist lahm von dem Schlag mit dem Knüppel. Mit dem rechten Daumen versuche ich, ihm ins Auge zu stoßen, aber er verhindert das, indem er seinen Kopf fest gegen meine Backe preßt, als wären wir zwei widernatürlich Verliebte. Da ich auch nicht treten kann, weil er zu dicht an mir steht, hat er mich ziemlich hilflos. Gerade als ich mich, ohne Luft, mit letzter Kraft nach unten fallen lassen will, sehe ich etwas, was mir bereits wie eine Illusion meiner schwindenden Sinne erscheint: eine blühende Geranie wächst plötzlich aus dem pickeligen Schädel, wie aus einem speziell potenten Misthaufen, gleichzeitig zeigen die Augen einen Ausdruck milder Überraschung, der Griff an meiner Kehle lockert sich, Topfscherben purzeln um uns herum, ich tauche, komme los, schieße wieder hoch und spüre ein scharfes Knacken – ich habe sein Kinn mit dem Schädel von unten erwischt, und er geht langsam in die Knie. Seltsamerweise haben die Wurzeln der Geranie, die von oben auf uns herabgeschleudert worden ist, den Kopf so fest umrahmt, daß der pickelige Germane mit der Blume auf dem Haupt in die Knie sinkt. Er wirkt so wie ein lieblicherer Nachkomme seiner Vorfahren, die Ochsenhörner als Kopfzier trugen. Auf seiner Schulter ruhen, wie Reste des zerschlagenen Helms, zwei grüne Majolikascherben.