Выбрать главу

»Das ist wahr.«

Der Zug bohrt ein paar glühende Augen in das Dunkel.

»Halte die Fahne hoch, Georg! Du weißt, wir sind unsterblich.«

»Das sind wir. Und du, laß dich nicht unterkriegen. Du bist so oft gerettet worden, daß du die Verpflichtung hast, weiter durchzukommen.«

»Klar«, sage ich.»Schon der andern wegen, die nicht gerettet wurden. Schon Valentins wegen.«

»Unsinn. Einfach, weil du lebst.«

Der Zug braust in die Halle, als warteten fünfhundert Leute auf ihn. Aber nur ich warte. Ich suche ein Abteil und steige ein. Das Abteil riecht nach Schlaf und Menschen. Ich ziehe das Fenster im Gang auf und lehne mich hinaus.»Wenn man etwas aufgibt, braucht man es nicht zu verlieren«, sagt Georg.»Nur Idioten tun das.«

»Wer redet schon von Verlieren«, erwidere ich, während der Zug anzieht.»Da wir sowieso am Ende verlieren, können wir uns erlauben, vorher zu siegen wie die gefleckten Waldaffen.«

»Siegen die immer?«

»Ja – weil sie gar nicht wissen, was das ist.«

Der Zug rollt bereits. Ich fühle Georgs Hand. Sie ist zu klein und zu weich, und in der Schlacht an der Pißbude hat sie Schrammen bekommen, die noch nicht heil sind. Der Zug wird schneller, Georg bleibt zurück, er istplötzlich älter und blasser, als ich dachte, ich sehe nur noch seine blasse Hand und seinen blassen Kopf, und dann ist nichts mehr da als der Himmel und das fliegende Dunkel.

Ich gehe in das Abteil. Ein Reisender mit einer Brille röchelt in einer Ecke; ein Förster in einer andern. In der dritten schnarcht ein fetter Mann mit einem Schnurrbart; in einer vierten gibt eine Frau mit Hängebacken und einem verrutschten Hut seufzende Triller von sich.

Ich spüre den scharfen Hunger der Traurigkeit und öffne meinen Koffer, der im Gepäcknetz liegt. Frau Kroll hat mich mit belegten Butterbroten bis Berlin versehen. Ich fingere danach, finde sie aber nicht und hole den Koffer aus dem Netz. Die Frau mit dem verrutschten Hut und den Trillern erwacht, sieht mich wütend an und trillert gleich darauf herausfordernd weiter. Ich sehe, weshalb ich die Butterbrote nicht gefunden habe. Georgs Smoking liegt darüber. Er hat ihn wahrscheinlich eingepackt, während ich den Obelisken verkauft habe. Ich sehe eine Weile auf das schwarze Tuch; dann hole ich die Butterbrote heraus und beginne zu essen. Es sind gute, erstklassig belegte Butterbrote. Das ganze Abteil wacht einen Augenblick vom Geruch des Brotes und der herrlichen Leberwurst auf. Ich kümmere mich um nichts und esse weiter. Dann lehne ich mich zurück auf meinen Sitz und sehe in das Dunkel, durch das ab und zu Lichter fliegen, und ich denke an Georg und den Smoking, und dann denke ich an Isabelle und Hermann Lotz und an den Obelisken, der angepißt wurde und zum Schluß die Firma gerettet hat, und zuletzt denke ich an gar nichts mehr.

XXVI

Ich habe keinen von allen wiedergesehen. Ich wollte ab und zu einmal zurückfahren, aber immer kam etwas dazwischen, und ich glaubte, ich hätte noch Zeit genug, aber plötzlich war keine Zeit mehr da. Die Nacht brach über Deutschland herein, ich verließ es, und als ich wiederkam, lag es in Trümmern. Georg Kroll war tot. Die Witwe Konersmann hatte weiterspioniert und herausbekommen, daß Georg ein Verhältnis mit Lisa gehabt hatte – 1933, zehn Jahre später, hat sie es an Watzek verraten, der damals Sturmführer der SA war. Watzek ließ Georg in ein Konzentrationslager sperren, obschon er schon fünf Jahre vorher von Lisa geschieden worden war. Ein paar Monate später war Georg tot.

Hans Hungermann wurde Kulturwart und Obersturmbannführer der neuen Partei. Er feierte sie in glühenden Versen und hatte deshalb nach 1945 etwas Sorgen, da er seine Position als Schuldirektor verlor – inzwischen sind aber seine Pensionsansprüche vom Staat längst anerkannt worden, und er lebt, wie unzählige andere Parteigenossen, sehr behaglich davon, ohne arbeiten zu müssen.

Der Bildhauer Kurt Bach war sieben Jahre im Konzentrationslager und kam als arbeitsunfähiger Krüppel zurück. Heute, zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazis, kämpft er immer noch um eine kleine Rente, ebenso wie unzählige andere Opfer des Regimes. Er hofft, wenn er Glück hat, auf eine Rente von siebzig Mark im Monat – etwa einem Zehntel dessen, was Hungermann als Pension bezieht, und auch etwa einem Zehntel dessen, was der Staat dem ersten Chef der Gestapo seit Jahren an Pension bezahlt – dem Mann, der das Konzentrationslager gegründet hat, in dem Kurt Bach zum Krüppel geprügelt wurde -, ganz zu schweigen natürlich von den noch wesentlich höheren Pensionen und Schadenersatzabfindungen, die an Generäle, Kriegsverbrecher und hohe frühere Parteibeamte gezahlt werden. Heinrich Kroll, der gut durch die Zeit gekommen ist, sieht darin mit viel Stolz einen Beweis für das unerschütterliche Rechtsbewußtsein unseres geliebten Vaterlandes.

Der Major Wolkenstein machte eine ausgezeichnete Karriere. Er wurde Mitglied der Partei, war bei der Judengesetzgebung beteiligt, lag nach dem Kriege einige Jahre still und ist heute mit vielen anderen Parteigenossen im Auswärtigen Amt beschäftigt.

Bodendiek und Wernicke hielten in der Irrenanstalt für lange Zeit einige Juden versteckt. Sie brachten sie in die Zellen für die unheilbaren Kranken, schoren sie und lehrten sie, wie sie sich als Verrückte benehmen mußten. Bodendiek wurde später in ein kleines Dorf versetzt, weil er sich darüber ungebührlich aufgeregt hatte, daß sein Bischof den Titel eines Staatsrates angenommen hatte von einer Regierung, die den Mord als heilige Pflicht pries. Wernicke wurde abgesetzt, weil er sich weigerte, tödliche Einspritzungen an seinen Kranken vorzunehmen. Es gelang ihm, die versteckten Juden vorher noch herauszuholen und fortzuschaffen. Man schickte ihn ins Feld, und er fiel 1944. Willy fiel 1942, Otto Bambuss 1945, Karl Kroll 1944. Lisa wurde bei einem Bombenangriff getötet. Ebenso die alte Frau Kroll.

Eduard Knobloch überstand alles; er servierte Gerechten und Ungerechten gleich erstklassig. Sein Hotel wurde zerstört, ist aber wieder aufgebaut worden. Gerda hat er nicht geheiratet, und niemand weiß, was aus ihr geworden ist. Auch von Geneviève Terhoven habe ich nie wieder etwas gehört.

Eine interessante Karriere machte Tränen-Oskar. Er kam als Soldat nach Rußland und wurde zum zweiten Male Friedhofskommandant. 1945 wurde er Dolmetscher bei den Besatzungstruppen und schließlich für einige Monate Bürgermeister von Werdenbrück. Danach ging er ins Geschäft zurück, zusammen mit Heinrich Kroll. Sie gründeten eine neue Firma und hatten große Erfolge – Grabsteine waren damals fast so gesucht wie Brot.

Der alte Knopf starb drei Monate, nachdem ich Werdenbrück verlassen hatte. Er wurde von einem Auto nachts überfahren. Seine Frau heiratete ein Jahr später den Sargtischler Wilke. Niemand hätte das erwartet. Es wurde eine glückliche Ehe.

Die Stadt Werdenbrück wurde während des Krieges durch Bomben so zertrümmert, daß fast kein Haus unbeschädigt blieb. Sie war ein Eisenbahn-Knotenpunkt; deshalb wurde sie so oft angegriffen. Ich war ein Jahr später einmal einige Stunden auf der Durchreise da. Ich suchte nach den alten Straßen, aber ich verirrte mich in der Stadt, in der ich so lange gelebt hatte. Nichts war mehr da als Trümmer, und ich fand auch niemand von früher wieder. In einem kleinen Laden, der sich nahe dem Bahnhof in einer Bretterbude befand, kaufte ich ein paar Postkarten mit Ansichten der Stadt aus der Zeit vor dem Kriege. Das war alles, was übriggeblieben war. Wenn jemand früher sich seiner Jugend erinnern wollte, ging er an den Ort zurück, wo er sie verbracht hatte. Heute kann man das in Deutschland kaum noch. Alles ist zerstört und neu aufgebaut worden und fremd. Postkarten müssen es ersetzen.

Die einzigen beiden Gebäude, die völlig unbeschädigt sind, sind die Irrenanstalt und die Gebäranstalt – hauptsächlich deshalb, weil sie etwas außerhalb der Stadt liegen. Sie waren sofort wieder voll belegt und sind es noch. Sie mußten sogar beträchtlich erweitert werden.