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Steiner passierte die Grenze. Er überlegte, ob er noch zum Schweizer Zoll gehen und Revanche verlangen sollte. Aber er wußte, daß er verlieren würde. Er beschloß, nach Murten zu fahren und nach Kern zu sehen. Es lag am Wege nach Paris und war kein großer Umweg.

KERN GING LANGSAM auf die Hauptpost zu. Er war müde. Die letzten Nächte hatte er kaum schlafen können. Ruth hätte schon vor drei Tagen da sein müssen. Er hatte die ganze Zeit nichts von ihr gehört. Sie hatte nicht geschrieben. Er hatte immer geglaubt, es hätte irgendeine andere Ursache, und sich tausend Gründe dafür ausgedacht – aber jetzt, auf einmal, glaubte er, daß sie nicht mehr käme. Er fühlte sich sonderbar ausgelöscht. Der Lärm der Straße sickerte von weit her in seine dumpfe, gestaltlose Traurigkeit, und automatisch setzte er Fuß vor Fuß.

Es dauerte eine Weile, ehe er den blauen Mantel erkannte. Er blieb stehen. Irgendein blauer Mantel, dachte er, einer von den hundert blauen Mänteln, die mich in dieser Woche verrückt gemacht haben! Er sah weg und wieder hin. Kassenboten und eine dicke Frau, die mit Paketen beladen war, versperrten ihm den Blick. Er hielt den Atem an. Er spürte, daß er zitterte. Der blaue Mantel tanzte vor seinen Augen zwischen roten Gesichtern, Hüten, Fahrrädern, Paketen, Menschen, die sich unablässig dazwischenschoben. Er ging vorsichtig weiter, als schritte er über ein Seil und fürchtete jede Sekunde abzustürzen. Selbst als Ruth sich umdrehte und er ihr Gesicht sah, glaubte er noch an eine entsetzliche Ähnlichkeit und eine Täuschung der Phantasie. Erst als ihr Gesicht sich veränderte, stürzte er vorwärts, ihr entgegen.

»Ruth! Du bist da! Du bist da! Du wartest und ich bin nicht da!«

Er hielt sie fest in seinen Armen und fühlte, wie sie ihn hielt. Sie klammerten sich aneinander, als stünden sie auf einer schmalen Bergeskuppe und der Sturm reiße an ihnen, um sie herunterzuwehen. Sie standen mitten in der Tür der Hauptpost von Genf, zur Zeit des größten Verkehrs, und Leute drängten an ihnen vorüber, stießen sie an, drehten sich erstaunt um und lachten – sie merkten es nicht. Sie waren allein. Erst als Kern in seinem Blickfeld eine Uniform auftauchen sah, wurde er sofort wach. Er ließ Ruth los.

»Komm rasch!«flüsterte er.»In die Post! Ehe etwas passiert!«

Sie tauchten eilig im Gedränge unter.»Komm hierher!«

Sie stellten sich an das Ende einer Reihe von Leuten, die vor einem Briefmarkenschalter warteten.»Wann bist du angekommen?«fragte Kern. Die Hauptpost in Genf war ihm noch nie so hell erschienen.

»Heute morgen.«

»Haben sie dich erst nach Basel gebracht? Oder direkt hierher?«

»Nein. Man hat mir in Murten eine Aufenthaltserlaubnis für drei Tage gegeben. Da bin ich gleich hierhergefahren.«

»Wunderbar! Eine Aufenthaltserlaubnis sogar! Da brauchst du überhaupt keine Angst zu haben! Ich sah dich schon allein an der Grenze. Du bist blaß und schmal geworden, Ruth!«

»Ich bin aber wieder ganz gesund. Sehe ich häßlicher aus?«

»Nein, viel schöner! Du bist jedesmal schöner, wenn ich dich wiedersehe! Hast du Hunger?«

»Ja«, sagte Ruth.»Hunger nach allem; dich zu sehen, über Straßen zu gehen, nach Luft und Sprechen.«

»Dann wollen wir gleich essen gehen. Ich weiß ein kleines Restaurant. Da gibt es frische Fische aus dem See. Wie in Lu-zern.«Kern strahlte.»Die Schweiz hat so viele Seen. Wo ist dein Gepäck?«

»Am Bahnhof natürlich! Ich bin doch ein alter, gelernter Vagabund.«

»Ja! Ich bin stolz auf dich! Ruth, jetzt kommt deine erste illegale Grenze. Das ist ungefähr wie das Abitur. Hast du Angst?«

»Überhaupt nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Diese Grenze kenne ich wie meine Brieftasche. Ich weiß alles. Ich habe sogar schon Fahrkarten. In Frankreich gekauft, vorgestern. Alles ist vorbereitet. Ich kenne den Bahnhof ganz genau. Wir bleiben in einer kleinen Kneipe, die sicher ist, und gehen erst im letzten Moment direkt zum Zug.«

»Du hast schon Fahrkarten? Wo hast du denn das Geld dazu her? Du hast mir doch so viel geschickt?«

»Ich habe in meiner Verzweiflung die Schweizer Geistlichkeit ausgeplündert. Ich bin wie ein Gangster durch Basel und Genf gebraust. Für ein halbes Jahr darf ich mich jetzt hier nicht mehr sehen lassen.«

Ruth lachte.»Ich bringe auch etwas Geld mit. Doktor Beer hat es von einer Flüchtlingshilfe für mich geholt.«

Sie standen dicht nebeneinander und rückten langsam in der Kette der Wartenden vor. Kern hielt Ruths herabhängende Hand fest in der seinen. Sie sprachen leise, mit unterdrückten Stimmen, und bemühten sich, möglichst gleichmütig und unbeteiligt auszusehen.

»Wir scheinen ein unheimliches Glück zu haben«, sagte Kern.»Du kommst nicht nur wieder – mit einer Aufenthaltsgenehmigung – du bringst sogar noch Geld mit! Weshalb hast du mir denn nicht geschrieben. Konntest du es nicht?«

»Ich hatte Angst! Ich dachte, man könnte dich fassen, wenn du die Briefe abholtest. Beer hat mir die Sache mit Ammers erzählt. Er glaubte auch, es wäre besser, nicht zu schreiben. Ich habe dir viele Briefe geschrieben, Ludwig. Ich habe immerfort an dich geschrieben – ohne Bleistift und Papier. Du weißt das, nicht wahr?«Sie sah ihn an.

Kern drückte ihre Hand.»Ich weiß es. Hast du schon ein Zimmer?«

»Nein. Ich bin gleich von der Bahn hierhergegangen.«

»Ja, nur…«Kern zögerte einen Moment.»Weißt du, ich bin in den letzten Tagen so eine Art Nachtwandler geworden. Ich wollte nichts riskieren. Da habe ich mehr die staatlichen Pensionen benutzt.«Er bemerkte Ruths Blick.»Nein, nein«, sagte er,»nicht das Gefängnis. Die Zollwachen. Man schläft dort sehr gut. Warm vor allem. Alle Zollwachen sind prima geheizt, wenn es kalt wird. Das ist aber nichts für dich. Du hast eine Aufenthaltserlaubnis – für dich könnten wir großartig ein Zimmer im Grand Hotel Bellevue nehmen. Da wohnen die Vertreter des Völkerbundes. Minister und ähnlich unnützes Volk.«

»Das werden wir nicht tun. Ich bleibe bei dir. Wenn du glaubst, daß es gefährlich ist, laß uns heute nacht noch weggehen.«

»Was?«fragte der Postbeamte hinter dem Schalter ungeduldig.

Sie waren bis zum Fenster vorgerückt, ohne darauf zu achten.

»Eine Briefmarke für zehn Centimes«, sagte Kern, rasch gefaßt.

Der Beamte schob die Marke hinüber. Kern zahlte, und sie gingen dem Ausgang zu.»Was willst du denn mit der Marke machen?«fragte Ruth.

»Ich weiß nicht. Ich habe sie nur so gekauft. Ich reagiere automatisch, wenn ich eine Uniform sehe.«Kern betrachtete die Marke. Die Teufelsfälle am Gotthard waren darauf abgebildet.»Ich könnte einen anonymen Schmähbrief an Ammers schreiben«, erklärte er.

»Ammers…«, sagte Ruth.»Weißt du, daß er bei Beer in Behandlung ist?«

»Was? Ist das wahr?«Kern starrte sie an.»Jetzt sag noch wegen Leberbeschwerden, und ich stehe vor Jubel kopf.«

Ruth lachte. Sie lachte so, daß sie sich bog wie eine Weide im Wind.»Ja – es ist wahr! Deshalb ist er ja bei Beer! Beer ist der einzige Spezialist in Murten. Denk dir, das macht dem Ammers noch Gewissensbeschwerden dazu – daß er zu einem jüdischen Arzt gehen muß!«

»Großer Gott! Das ist ein stolzer Moment in meinem Leben! Steiner hat mir einmal gesagt, Liebe und Rache gleichzeitig wäre das Seltenste in der Welt. Hier stehe ich, auf den Stufen der Hauptpost in Genf, und habe es! Vielleicht sitzt auch Binding jetzt gerade im Gefängnis oder hat sich ein Bein gebrochen!«

»Oder man hat ihm sein Geld gestohlen.«

»Noch besser! Du hast gute Ideen, Ruth!«

Sie gingen die Stufen hinunter.»Dicker Verkehr ist am besten«, sagte Kern.»Da kann einem kaum was passieren.«

»Gehen wir heute nacht über die Grenze?«fragte Ruth.

»Nein. Du mußt dich erst ausruhen und schlafen. Es ist ein langer Weg.«

»Und du! Mußt du nicht schlafen? Wir können doch eine Pension nehmen, die in Binders Liste steht. Ist es wirklich so gefährlich?«

»Ich weiß es nicht mehr«, sagte Kern.»Ich glaube nicht. So dicht an der Grenze kann nicht viel passieren. Ich bin schon zu oft hin und her gegangen. Sie können uns höchstens zum Zoll bringen, das ist alles. Und wenn es auch etwas gefährlich wäre – ich würde heute nicht allein noch einmal losgehen, glaube ich. Mittags um zwölf Uhr fünfzehn mitten im Verkehr ist man noch stark in seinen Vorsätzen – aber abends, wenn es dunkel wird, ist alles anders. Es wird ohnehin jede Minute unwahrscheinlicher. Du bist wieder da – wie kann man da freiwillig weggehen!«