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Sie setzten sich an Marills Tisch.»Wenn ihr hier eßt, empfehle ich euch diese dicke Kellnerin«, sagte er.»Sie heißt Yvonne und stammt aus dem Elsaß. Ich weiß nicht, wie sie es macht – aber in ihren Schüsseln ist immer mehr als in allen andern.«

Yvonne stellte die Suppe auf den Tisch und grinste.

»Habt ihr Geld, Kinder?«fragte Marill.

»Für ungefähr zwei Wochen«, erwiderte Kern.

Marill nickte.»Das ist gut. Habt ihr schon überlegt, was ihr machen wollt?«

»Nein. Wir sind erst gestern angekommen. Wovon leben alle die Leute hier?«

»Gut gefragt, Kern. Fangen wir mit mir an. Ich lebe von Artikeln, die ich für ein paar Emigrantenblätter schreibe. Die Leute kaufen sie, weil ich mal Reichstagsabgeordneter war. Die Russen haben alle Nansenpässe und Arbeitserlaubnis. Sie waren die erste Emigrationswelle. Vor zwanzig Jahren. Sie sind Kellner, Köche, Masseure, Portiers, Schuhmacher, Chauffeure und so etwas. Die Italiener sind auch zum größten Teil untergebracht; sie waren die zweite Welle. Wir Deutschen haben zum Teil noch gültige Pässe; die wenigsten haben eine Arbeitserlaubnis. Manche besitzen noch etwas Geld, das sie sehr vorsichtig einteilen. Die meisten aber haben keins mehr. Sie arbeiten schwarz für das Essen und ein paar Francs. Sie verkaufen, was sie noch besitzen. Dort drüben der Rechtsanwalt macht Übersetzungen und Schreibmaschinenarbeit. Neben ihm der junge Mann bringt Deutsche mit Geld zu Nachtklubs und bekommt dafür Prozente. Die Schauspielerin ihm gegenüber lebt von Handlesekunst und Astrologie. Manche geben Sprachunterricht. Manche sind Gymnastiklehrer geworden. Ein paar gehen morgens früh zu den Markthallen, um Körbe zu schleppen. Eine Anzahl lebt nur von den Unterstützungen der Flüchtlingshilfe. Manche handeln; manche betteln – und manche kommen irgendwann nicht mehr wieder. Wart ihr schon bei der Flüchtlingshilfe?«

»Ich war da«, sagte Kern.»Heute vormittag.«

»Nichts bekommen?«

»Nein.«

»Macht nichts. Sie müssen wieder hingehen. Ruth muß zur jüdischen gehen; Sie zur gemischten; ich gehöre zur arischen.«Marill lachte.»Das Elend hat seine Bürokratie, wie Sie sehen. Haben Sie sich eintragen lassen?«

»Nein, noch nicht.«

»Machen Sie das morgen. Klassmann kann euch helfen. Er ist Experte darin. Für Ruth kann er sogar versuchen, eine Aufenthaltserlaubnis zu kriegen. Sie hat doch einen Paß.«

»Sie hat einen Paß«, sagte Kern.»Aber er ist abgelaufen, und sie mußte illegal über die Grenze.«

»Das macht nichts. Ein Paß ist ein Paß. Gold wert! Klassmann wird euch das erklären.«

Yvonne stellte Kartoffeln und eine Platte auf den Tisch, auf der drei Stücke Kalbfleisch lagen. Kern lächelte sie an. Sie grinste breit zurück.

»Seht ihr!«sagte Marill.»Das ist Yvonne! Die reguläre Portion ist ein Stück Fleisch. Sie bringt eins mehr.«

»Danke vielmals, Yvonne«, sagte Ruth.

Yvonne verstärkte ihr Grinsen und schaukelte hinaus.

»Lieber Himmel!«sagte Kern.»Eine Aufenthaltserlaubnis für Ruth! Sie scheint Glück damit zu haben! In der Schweiz hatte sie auch schon eine. Wenn auch nur für drei Tage.«

»Haben Sie die Chemie aufgegeben, Ruth?«fragte Marill.

»Ja. Ja und nein. Vorläufig ja.«

Marill nickte.»Richtig.«Er zeigte auf einen jungen Mann, der am Fenster saß und ein Buch vor sich hatte.»Der Junge dort drüben ist seit zwei Jahren Tellerwäscher in einem Nachtklub. Er war deutscher Student. Vor zwei Wochen hat er seinen französischen Doktor gemacht. Inzwischen hat er erfahren, daß er hier nicht angestellt werden kann, daß aber Chancen in Kapstadt sind. Jetzt lernt er Englisch, um seinen englischen Doktor zu machen und nach Südafrika zu gehen. So etwas gibt es hier auch. Ist Ihnen das ein Trost?«

»Ja.«

»Ihnen auch, Kern?«

»Mir ist alles ein Trost. Wie ist die Polizei hier?«

»Ziemlich lax. Man muß aufpassen, aber sie ist nicht so scharf wie in der Schweiz.«

»Das ist mir ein Trost!«sagte Kern.

Kern ging am nächsten Vormittag mit Klassmann zur Flüchtlingshilfe, um sich einschreiben zu lassen. Von da gingen sie zur Präfektur.»Es hat nicht den geringsten Zweck, sich zu melden«, sagte Klassmann.»Sie würden nur ausgewiesen werden. Aber es ist ganz gut, daß Sie einmal sehen, was los ist. Es ist nicht gefährlich. Die Polizeigebäude sind neben Kirchen und Museen die ungefährlichsten Plätze für Emigranten.«

»Das stimmt!«erwiderte Kern.»An Museen habe ich allerdings bisher noch nicht gedacht.«

Die Präfektur war ein mächtiger Gebäudekomplex, der um einen großen Hof gelagert war. Klassmann führte Kern durch ein paar Torbögen und Türen in einen großen Saal, der ungefähr aussah wie eine Bahnhofshalle. An den Wänden entlang lief eine Reihe von Schaltern, hinter denen die Angestellten saßen. In der Mitte des Raumes stand eine Anzahl Bänke ohne Lehnen. Einige hundert Menschen saßen herum oder standen in langen Schlangen vor den Schaltern.

»Dies ist der Saal der Auserwählten«, sagte Klassmann.»Es ist beinah das Paradies. Hier sehen Sie Leute, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, die sie verlängern lassen müssen.«

Kern spürte die lastende Sorge und den Ernst des Raumes.

»Das ist das Paradies?«fragte er.

»Ja. Sehen Sie!«

Klassmann zeigte auf eine Frau, die den Schalter neben ihnen verließ. Sie starrte mit einem Ausdruck irrsinnigen Entzückens auf einen Ausweis, den die Beamtin ihr gestempelt zurückgegeben hatte. Dann lief sie auf eine Gruppe wartender Menschen zu.»Vier Wochen!«rief sie unterdrückt.»Um vier Wochen verlängert!«

Klassmann wechselte einen Blick mit Kern.»Vier Wochen – das ist heute schon fast ein ganzes Leben, was?«

Kern nickte.

Ein alter Mann stand jetzt vor dem Schalter.»Aber was soll ich denn machen?«fragte er verstört.

Der Beamte erwiderte etwas in rapidem Französisch, das Kern nicht verstand. Der alte Mann hörte ihm zu.»Ja, aber was soll ich denn machen?«fragte er dann zum zweitenmal.

Der Beamte wiederholte seine Erklärung.»Der nächste«, sagte er dann und griff nach den Papieren, die ihm der folgende in der Reihe über den Kopf des alten Mannes hinweg reichte.

Der alte Mann wandte den Kopf.»Ich bin doch noch nicht fertig!«sagte er.»Ich weiß doch nicht, was ich machen soll. Wohin soll ich denn gehen?«fragte er den Beamten.

Der Beamte sagte etwas und beschäftigte sich mit den Papieren des nächsten. Der alte Mann hielt sich am Brett des Schalters fest wie an einer Planke im Meer.»Was soll ich denn tun, wenn Sie mir mein Recepisse nicht verlängern?«fragte er.

Der Beamte kümmerte sich nicht um ihn. Der Mann drehte sich zu den Leuten um, die hinter ihm standen.»Was soll ich denn nur tun?«

Er sah in eine Mauer steinerner, versorgter, gehetzter Gesichter. Niemand antwortete; aber niemand drängte ihn auch fort. Über seinen Kopf weg reichte man die Papiere in das Fenster des Schalters, behutsam bemüht, ihn nicht anzustoßen.

Er wandte sich wieder dem Beamten zu.»Irgend jemand muß mir doch sagen, was ich tun soll!«sagte er leise immer wieder. Er flüsterte nur noch, mit erschrockenen Augen, schon geduckt unter den Armen, die wie Wogen über seinen Kopf hinweg sich zum Schalter bewegten. Seine Hände mit den dick hervorstehenden, krausen Adern klammerten sich noch an das Schalterbrett. Dann schwieg er. Und plötzlich, als erlahme seine Kraft, ließ er die Arme fallen und verließ den Schalter. Die großen, nutzlosen Hände pendelten an seinem Körper herunter wie an Tauen, zusammenhanglos, als wären sie nur zufällig aufgehängt an den Schultern, und der vorgeneigte Kopf schien nichts mehr zu sehen. Aber während er noch völlig verloren dastand, sah Kern das nächste Gesicht vor dem Schalter in Entsetzen erstarren. Dann folgten hastige Gebärden und wieder dieses furchtbare, trostlose Starren, dieses blinde Insichhineinschauen, ob es nicht irgendwo noch irgendeine Rettung gäbe.