»KOMMEN SIE«, SAGTE Klassmann draußen.»Wir trinken noch einen Kaffee.«
Sie setzten sich an einen Rohrtisch vor ein kleines Bistro. Kern war erleichtert, als er den bitteren, schwarzen Kaffee getrunken hatte.
»Was ist die letzte Station?«fragte er.
»Die letzte Station sind die vielen, die allein irgendwo sitzen und verhungern«, erwiderte Klassmann.»Die Gefängnisse. Die Untergrundbahnhöfe nachts. Die Neubauten. Die Brückenbogen der Seine.«
Kern blickte auf den Menschenstrom, der vor den Tischen des Bistro sich unablässig entlangschob. Ein Mädchen mit einem großen Hutkarton am Arm lächelte ihn im Vorübergehen an. Sie drehte sich noch einmal um und warf ihm über die Schulter einen schnellen Blick zu.
»Wie alt sind Sie?«fragte Klassmann.
»Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.«
»Das habe ich mir gedacht.«Klassmann rührte in seiner Tasse.»Mein Sohn ist ebenso alt wie Sie.«
»Ist er auch hier?«
»Nein«, sagte Klassmann,»er ist in Deutschland.«
Kern sah auf.»Das ist schlimm, das kann ich verstehen.«
»Nicht für ihn.«
»Um so besser.«
»Für ihn wäre es schlimmer, wenn er hier wäre«, sagte Klassmann.
»So?«Kern blickte ihn etwas verwundert an.
»Ja. Ich würde ihn dann zum Krüppel schlagen.«
»Was?«
»Er hat mich denunziert. Ich mußte seinetwegen ’raus.«
»Oh, verflucht!«sagte Kern.
»Ich bin Katholik, gläubiger Katholik. Der Junge dagegen war schon ein paar Jahre in einer dieser Jugendorganisationen drüben von der Partei. Alter Kämpfer nennt man das da. Sie können sich denken, daß mir das nicht gepaßt hat und daß es manches Wort hin und her gab. Der Junge wurde immer aufsässiger. Eines Tages sagte er mir, so etwa wie ein Unteroffizier einem Rekruten, ich solle meinen Mund halten, sonst würde mir was passieren. Drohte, verstehen Sie. Ich haute ihm eine Ohrfeige herunter. Er rannte wütend weg und denunzierte mich bei der Staatspolizei. Gab Wort für Wort zu Protokoll, was ich über die Partei geschimpft hatte. Zum Glück hatte ich einen Bekannten dort, der mich sofort telefonisch warnte. Ich mußte schleunigst weg. Eine Stunde später kam schon ein Kommando, mich zu holen – an der Spitze mein Sohn.«
»Kein Spaß«, sagte Kern.
Klassmann nickte.»Wird aber auch kein Spaß für ihn sein, wenn ich mal wiederkomme.«
»Vielleicht hat er dann selber einen Sohn, der ihn denunziert hat. Vielleicht dann bei den Kommunisten.«
Klassmann sah Kern betroffen an.»Meinen Sie, daß es so lange dauert?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mir nicht denken, daß ich jemals zurückkomme.«
STEINER BEFESTIGTE EIN nationalsozialistisches Parteiabzeichen unter dem linken Umschlag seines Jacketts.»Großartig, Beer!«sagte er.»Wo haben Sie das nur her?«
Doktor Beer grinste.»Von einem Patienten. Autounfall kurz vor Murten. Ich schiente ihm seinen Arm. Erst war er vorsichtig und fand alles wunderbar drüben; dann tranken wir ein paar Kognaks zusammen, und er fing an zu fluchen auf die ganze Wirtschaft und vermachte mir sein Parteiabzeichen zur Erinnerung. Er mußte leider zurück nach Deutschland.«
»Der Mann sei gesegnet!«Steiner nahm einen blauen Aktendeckel vom Tisch und öffnete ihn. Eine Liste mit einem Hakenkreuz und einige Propagandaaufrufe lagen darin.»Ich glaube, das genügt. Darauf fällt er zehnmal ’rein.«
Die Aufrufe und die Liste hatte er von Beer, dem solche Dinge aus einem rätselhaften Grund seit Jahren von einer Parteiorganisation in Stuttgart zugeschickt wurden. Steiner hatte eine Auswahl getroffen und befand sich jetzt auf dem Kriegspfade gegen Ammers. Beer hatte ihm erzählt, was Kern passiert war.
»Wann fahren Sie weiter?«fragte Beer.
»Um elf. Vorher bringe ich Ihnen aber noch Ihr Abzeichen wieder.«
»Gut. Ich werde mit einer Flasche Fendant auf Sie warten.«
Steiner ging los. Er klingelte an der Haustür von Ammers. Das Dienstmädchen öffnete.»Ich möchte Herrn Ammers sprechen«, sagte er kurz.»Mein Name ist Huber.«
Das Dienstmädchen verschwand und kam wieder.»In welcher Angelegenheit?«
Aha, dachte Steiner, das ist Kerns Verdienst. Er wußte, daß Kern nicht gefragt worden war.»Parteisache«, erklärte er kurz.
Diesmal erschien Ammers selbst. Er starrte Steiner neugierig an. Steiner hob nachlässig die Hand.»Parteigenosse Ammers?«
»Ja.«
Steiner drehte seinen Rockaufschlag um und zeigte sein Abzeichen.»Huber«, erklärte er.»Ich komme von der Auslandsorganisation und habe Sie einige Dinge zu fragen.«
Ammers stand gleichzeitig stramm und verbeugte sich.»Bitte, treten Sie ein… Herr… Herr…«
»Huber. Schlichtweg Huber. Sie wissen – die Ohren der Feinde sind überall.«
»Ich weiß! Eine besondere Ehre, Herr Huber.«
Steiner hatte richtig kalkuliert. Ammers dachte gar nicht daran, ihm zu mißtrauen. Der Gehorsam und die Angst vor der Gestapo saßen ihm viel zu sehr in den Knochen. Und selbst wenn er mißtraut hätte, hätte er in der Schweiz gegen Steiner nichts machen können. Steiner besaß einen österreichischen Paß auf den Namen Huber. Wieweit er mit deutschen Organisationen in Verbindung war, konnte niemand feststellen. Nicht einmal die Deutsche Gesandtschaft, die längst nicht über alle geheimen Propagandamaßnahmen informiert war.
Ammers führte Steiner in den Salon.»Setzen Sie sich, Ammers«, sagte Steiner und nahm selbst in Ammers’ Sessel Platz.
Er blätterte in seinem Aktendeckel.»Sie wissen, Parteigenosse Ammers, daß wir ein Hauptprinzip bei unserer Arbeit im Ausland haben: Lautlosigkeit.«
Ammers nickte.
»Wir haben das auch von Ihnen erwartet. Geräuschlose Arbeit. Jetzt hören wir, daß Sie hier mit einem jungen Emigranten unnötiges Aufsehen gemacht haben!«
Ammers fuhr von seinem Stuhl hoch.»Dieser Verbrecher! Ganz krank hat er mich gemacht, krank und lächerlich, dieser Lump…«
»Lächerlich?«fuhr Steiner schneidend dazwischen,»öffentlich lächerlich? Parteigenosse Ammers!«
»Nicht öffentlich, nicht öffentlich!«Ammers sah, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er verhaspelte sich fast vor Aufregung.»Nur vor mir selbst, meine ich…!«
Steiner sah ihn durchbohrend an.»Ammers«, sagte er dann langsam,»ein echter Parteigenosse ist auch vor sich selbst nie lächerlich! Was ist los mit Ihnen, Mann? Haben demokratische Wühlmäuse Ihre Gesinnung angefressen? Lächerlich… so ein Wort gibt es für uns gar nicht! Die andern sind grundsätzlich lächerlich, verstanden?«
»Ja, natürlich!«Ammers fuhr sich über die Stirn. Er sah sich schon halb im Konzentrationslager, damit seine Gesinnung aufgefrischt würde.»Es war wirklich nur dieser eine Fall! Sonst bin ich stahlhart. Meine Treue ist unerschütterlich…«
Steiner ließ ihn eine Zeitlang reden. Dann schnitt er ihm das Wort ab.»Gut, Parteigenosse. Ich hoffe, so etwas wird nicht wieder vorfallen. Kümmern Sie sich nicht mehr um Emigranten, verstanden? Wir sind froh, daß wir sie los sind.«
Ammers nickte eifrig. Er stand auf und holte eine Kristallflasche und zwei silberne, innen vergoldete Likörschalen auf hohen Stielen vom Büfett. Steiner betrachtete das Arrangement mit Abscheu.
»Was ist das?«fragte er.
»Kognak. Ich dachte, Sie würden vielleicht eine kleine Erfrischung…«
»Kognak serviert man so, wenn er sehr schlecht ist, Ammers«, sagte Steiner etwas jovialer.»Oder an Mitglieder eines Keuschheitsvereins. Bringen Sie mir ein einfaches, nicht zu kleines Glas.«
»Sehr wohl!«Ammers war entzückt, daß das Eis scheinbar gebrochen war.
Steiner trank. Der Kognak war ziemlich gut. Aber das war kein Verdienst Ammers’. Es gab keinen schlechten Kognak in der Schweiz.
Steiner nahm den blauen Aktendeckel aus der Ledermappe, die er von Beer entliehen hatte.»Hier noch etwas nebenbei, Parteigenosse. Streng vertraulich. Sie wissen, daß unsere Propaganda in der Schweiz noch sehr im argen liegt?«
»Ja«, bestätigte Ammers eifrig.»Ich habe das schon immer gefunden.«